Aus dem Euroland Estland, Heimat von Skype, reiste diese Woche eine parlamentarische Delegation nach Deutschland. Nach Gesprächen im Bundestag mit dem Verteidigungs-, Finanz- und Auswärtigem Ausschuss, Besuchen an der ehemaligen Berliner Mauer und der Holocaust-Gedenkstätte stand gestern der Landtag NRW auf der Agenda. Dabei hatten die Fraktionssprecher im Europa-Ausschuss und ich als dessen Vorsitzender die Gelegenheit, mit dem Präsidenten des Riigikogu, Eiki Nestor, und weiteren estnischen Politikern aus den Bereichen „Auswärtiges“ und „Europa“ verschiedene interessante Themen anzusprechen.
Silicon Tallinn
Estland hat lediglich 1,3 Millionen Einwohner. Obwohl es also im europäischen Vergleich eher klein ist, ist es ein technologisch fortschrittliches Land. So ist es Vorreiter in Sachen e-Government. Wähler können dort neben der klassischen Papierwahl auch per Internet und SMS abstimmen.
Neben dem e-Voting gibt es auch Dienste wie die digitale Krankenakte. Jeder kann seine Gesundheitsdaten online einsehen. Außerhalb der Hauptstadt liegt ein eigenes „Silicon Valley“ namens Technopolis. Auch der Bildungssektor setzt zunehmend auf e-Learning.
Andererseits sind die Esten, was den Datenschutz angeht, auch eher technologiegläubig. Es gab durchaus Missbrauch mit den Daten. Polizisten hatten sich etwa unberechtigt Zugriff verschafft, das wurde mitgeloggt, die Leute dann aus dem Dienst entfernt und bestraft. Ob Sanktionsmöglichkeiten für Missbrauch aber ausreichen, um den dadurch geschaffenen Gefahren zu begegnen und die Nachteile auszugleichen, darf aus Piratensicht bestritten werden.
Auf Seiten der Gäste wurde andererseits Verwunderung über Deutschland geäußert. So wurde mehrfach betont, dass es in Deutschland kaum öffentliches WLAN gibt, und wenn, dann recht teuer. Ich konnte mir an dieser Stelle ein Grinsen in Richtung meiner Ausschusskollegen von den anderen Parteien nicht verkneifen.
Ich war bereits vor einiger Zeit in Tallinn, und kann die Kritik bestätigen. Dort gibt es freies WLAN in fast jedem Restaurant, außerdem auch in den ÖPNV-Bussen. Das habe ich allerdings nicht selbst ausprobiert.
ÖPNV gratis
Estlands Hauptstadt führte im Januar 2013 Gratis-Nahverkehr in der ganzen Stadt ein. Seither nutzen die rund 430.000 Einwohner der Großstadt die Busse und Bahnen umsonst. Eine Bürgerbefragung im Frühjahr 2012 ergab, dass mehr als 75 Prozent der Tallinner die ÖPNV-Initiative unterstützen. Der fahrscheinlose Nahverkehr ist sogar so attraktiv, dass Menschen aus dem Umland nach Tallinn ziehen. Dies war durchaus Sinn dieses Projektes, bestätigte uns die Delegation.
Rund 12.000 Menschen, die in Tallinn arbeiten, aber dort nicht wohnten, verlegten dorthin ihren Hauptwohnsitz. Hinzu kommen diejenigen, die mit ihrer Datsche außerhalb der Stadtgrenze gemeldet waren. All jene zahlen nun ihre Steuern in Tallinn, im Durchschnitt 1.200 Euro pro Person. Damit scheint das Projekt momentan solide gegenfinanziert.
Nachbar Russland
Sorgen um den großen Nachbar Russland kamen zur Sprache. Einzelne Delegationsmitglieder fanden sehr deutliche Worte, wie etwa „Krieg in Europa“. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass nicht jeder diese sehr drastischen Formulierungen teilte. Generell wurden die Befürchtungen hinsichtlich Russland aber geteilt. Was auch nicht verwunderlich ist, vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Besatzung.
Das Verhältnis zwischen Estland und Russland gilt nicht erst seit der Krimkrise in der Ukraine als belastet. Im Juni 2014 forderte Estlands Premierminister Taavi Roivas mehr NATO-Präsenz im Baltikum, um eine „klare Abschreckungswirkung“ zu erzielen.
Piraten und Wikinger
Interessiert zeigte sich die Delegation an Zielen der PIRATEN, denn in Estland gibt es (noch?) keine Piratenpartei im Parlament. Daraufhin scherzte der Präsident und sagte sinngemäß, dass sie ja sowieso alle Wikinger sind.
Die Diskussion über unsere Ziele wurde dann am Abend beim Empfang des Honorarkonsuls fortgesetzt.
PIRATEN im Gespräch mit Parlamentspräsident Eiki Nestor (rechts im Bild): Dr. Joachim Paul, Vorsitzender der Piratenfraktion (links) und Nico Kern, Vorsitzender Europaausschuss (Mitte).