Das Triple ist komplett. Was die Bundeskanzlerin, der Innenminister und jetzt auch noch die Länderinnenminister der CDU (ob im Wahlkampf oder nicht) drei Wochen lang an Erklärungen und Statements produziert haben, ist im Ergebnis ein Frontalangriff auf die Grundrechte und unsere Freiheit.
20 Piraten
Machen Computerspiele dumm?
Burbach wird zu Jägers Schande
Rudolf Kaehr (1942 – 2016) – Versuch eines Nachrufs
(geb. 20.02.1942 in Biel, Schweiz – verstorben 04.07.2016 in Glasgow, Schottland)
Dieser Beitrag ist Rudolf Kaehr gewidmet, seiner Lebensgefährtin, seiner Familie, seinen Freundinnen und Freunden, seinen Bekannten, seinen Kolleginnen und Kollegen, die ihn schätzen und lieben, und die in Trauer miteinander verbunden sind.
Am 4. Juli 2016 verstarb Dr. Rudolf Kaehr plötzlich und unerwartet in seiner Wohnung in Glasgow. Er wurde mitten aus seiner Arbeit gerissen.
Manchmal dauert es eine kleine Weile, bevor überhaupt realisiert werden kann, wer da gerade von uns gegangen ist. Der Verlust des Freundes schockt und wirkt unmittelbar, und umso schwerer wenn nicht gar unmöglich ist es, dem Menschen Rudolf Kaehr und seinem außergewöhnlichen Leben in einem Nachruf überhaupt gerecht werden zu können.
Ausschnitte (16 min) aus FREISTIL VIII oder Die Seinsmaschine –
Mitteilungen aus der Wirklichkeit – von Thomas Schmitt – TAG/TRAUM / WDR / 1991 / 44 Min.
Wir haben einen großen warmherzigen Menschen und brillianten Wissenschaftler verloren, einen herausragenden und dabei ausnahmslos dialektischen Denker des 20. und 21. Jahrhunderts.
Rudolf Kaehr studierte u.a. an der FU Berlin Psychologie, Linguistik, insb. Philosophie, mathematische Logik (in Münster bei Herbert Stachowiak) und Mathematik und promovierte bei dem Logiker, Philosophen und Grundlagenforscher der Kybernetik, Gotthard Günther (Biological Computer Laboratory, Urbana, USA), in Hamburg mit summa cum laude.
Noch als wissenschaftlicher Hilfsassistent vertrat er 1968 den Philosophen Paul Feyerabend bei seinen Seminaren an der FU Berlin, der in London gerade mit den Beatles in einer Bar versackt war.[1]
Ab 1972 organisierte Kaehr an der FU Berlin Vorträge von Gotthard Günther, der zu dieser Zeit von den USA nach Hamburg übersiedelte, und begleitete den Philosophen zu weiteren Vorträgen an die Akademie der Wissenschaften der DDR nach Ostberlin.[2] Die Zusammenarbeit resultierte in einem Promotions-verhältnis.
Sein Doktorvater Gotthard Günther schreibt über ihn in einem Brief an Heinz von Foerster am 25.07.1978:
„Zu dem, was Mieke (Anm.: Marie, die Ehefrau Günthers) über Kaehr geschrieben hat, will ich noch einiges hinzufügen. Kaehr ist ein crackpot von astronomischen Größenmassen. (crackpot, engl.: Spinner, Verrückter, Irrer) Aber er kann etwas. Er hat die proemielle Relation, die Dir aus meiner Arbeit „Cognition and Volition“ bekannt sein sollte, genommen und auf ihrer Basis eine mehrwertige Logik mit Morphogrammen aufgebaut. Das ist im wesentlichen auf der Basis meines Buches „Idee und Grundriss einer nicht-aristotelischen Logik“ geschehen. [….] Jedenfalls ist bei Kaehr – wenn er geruht, sich mit Dir in Verbindung zu setzen, was ich nicht weiß, Neues zu finden.“
Damit würdigt Günther die Entwicklung wesentlicher formaler Anteile seiner Polykontexturallogik als Leistung von Rudolf Kaehr. Mehr noch, er ehrte seinen Promovenden zusätzlich, indem er Kaehrs Dissertation „Materialien zur Formalisierung der Dialektischen Logik und der Morphogrammatik 1973-1975“[3] in die 2. Auflage seines Werkes „Idee und Grundriss einer nicht-aristotelischen Logik“ als Anhang mit hinein nahm. Kaehr war es letztlich auch, der herausfand, dass es neben der von Günther entwickelten offenen Proemialrelation auch noch eine geschlossene Form geben muss.
1985 besuchte Eberhard von Goldammer Rudolf Kaehr in seiner Wohnung in der Goethestraße in Berlin. Laut Rolfs glaubhaft-humorvoller Versicherung war Eberhard „der einzige Mann, der mir jemals einen Strauß Blumen mitgebracht hat“.
Von Goldammer überzeugte Kaehr, die Leitung des Instituts für theoretische Biowissenschaften an der Universität Witten/Herdecke (1987 – 1990) zu übernehmen.
1987 bis 1993 waren wissenschaftlich und menschlich sehr fruchtbare Jahre, es entstanden lange darüber hinaus andauernde Freundschaften, Kooperationen und nicht zuletzt auch ein ganzes Bündel an innovativen Publikationen [4]. Jedoch, und das muss hier ganz unverhohlen gesagt werden, warf die ideologisch motivierte Universitätsleitung – der damalige Präsident der UWH, Konrad Schily, bemerkte Kaehr gegenüber einmal, seine Logik sei ihm, Schily, „zu kristallin“ – Rudolf Kaehr und Eberhard von Goldammer immer wieder Knüppel zwischen die Beine, was letztlich zum Ende beider Institute von Kaehr und von Goldammer und der jeweiligen Arbeitsgruppen führte, nicht jedoch zum Ende der Zusammenarbeit.
Es folgten Projekte an der Kunsthochschule für Medien in Köln zu den Themen anthropomorpher Schnittstellen und Kreativität, eine Gastprofessur für Philosophie an der Städelschule Frankfurt sowie zahlreiche Seminare und Vorträge. Ende der 90er-Jahre übersiedelte er nach Glasgow, Schottland. Mit Ausnahme einer Gastprofessur an der Universität London war er in seinem Thinkartlab als freier Grundlagenforscher tätig. In dieser Zeit entwickelte er auch die Diamond Theory, eine formal-applikative Umsetzung der Proemialrelation, die darüber hinaus auch als eine polykontexturale Erweiterung des Tetralemma-Verfahrens (Catuṣkoṭi ) verstanden werden kann.
Rudolf Kaehr war frei von jeglicher doktoraler oder professoraler Arroganz und ertrug in seinen Seminaren mit Höflichkeit und Engelsgeduld noch die allerblödeste Zwischenfrage, im Gegenteil, oft nutzte er Zwischenfragen, um sich in andere Kontexte tragen zu lassen und den gerade zu erläuternden Sachverhalt aus einem neuen Blickwinkel zu beleuchten.
Seine didaktische Virtuosität bestand u.a. auch darin, seinen Gegenüber aus seinem geistigen Zuhause – bei mir war das Mitte der 80er ein dezenter, gleichwohl noch recht unreflektierter Physikalismus – in eine andere Denkwelt zu katapultieren und ihn den Weg nach Hause allein finden zu lassen. Hatte man den Weg dann endlich gefunden, musste man feststellen, dass sich das Zuhause inzwischen verändert hatte. Diese Vorgehensweise kann auch kritisiert werden, jedoch lässt sie dem Gegenüber immer die individuelle Freiheit, sich darauf einzulassen – oder auch nicht. Diejenigen, die sich darauf einließen, erfuhren in der Kommunikation mit ihm ein zunehmendes Maß an eigener Freiheit im Denken und Handeln, an Inspiration und eigenen Möglichkeiten.
Auf meine Frage, was denn sein eigentliches wissenschaftliches Ziel sei, antwortete er mir einmal in seiner humorvoll-lakonischen Art, mit Letztfragen umzugehen: „Mein Ziel ist die Erweiterung des Nichts“. Ich habe 10 Jahre gebraucht, um zu kapieren, was er damit sagen wollte.
Anderen ging es offenbar ähnlich. So schrieb Hans-Jörg Rheinberger, damals Executive Director des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, als Kommentar zu Rudolf Kaehrs Beitrag „Zur Verstörung des (H)ortes der Zerstörung„ [5,6]:
„Ich vermag nur zu ahnen, was sich in Rudolfs Text abspielt, worauf er hinaus will. Das war ja schon damals, vor über dreißig Jahren „Auf dem Grat“, sein vergebliches Bemühen, Leuten wie mir die mehrwertige Logik von Gotthard Günther nahezubringen. „Das Novum der Kenogrammatik gegenüber der Semiotik“, heißt es in seinem Essay, „besteht darin, dass die transzendentalen Voraussetzungen der Semiotik, d.h. die kognitiven Prozesse der Abstraktionen der Identifizierbarkeit und der Iterierbarkeit, also die Bedingungen ihrer Möglichkeit in einen innerweltlichen, d.h. konkret-operativen Zusammenhang gebracht werden.“ Dennoch meine ich, etwas hinter diesem ungeheueren Satz vermuten zu können. Identifikation und Iteration als konkret-operativer, innerweltlicher Zusammenhang? Ja! Da stellt sich ein Bild ein. So ungefähr stelle ich mir den Prozess der experimentellen Erkenntnisgewinnung vor, den material-vermittelten Forschungsvorgang. Auch er ist im Prinzip unabschließbar und hat keinen sinnvoll angebbaren singulären Ausgangspunkt. Das heißt, dass es ihn nur gibt in der ihm eigenen Rekursivität, in seiner Getriebenheit durch seine eigene Bewegung. Er läuft in sich zurück aufgrund einer konstitutiven Identitätsverfehlung, und das ist genau das, was ihn im Gang hält. Der Semiosis der Forschung kommt man weder auf klassisch erkenntnistheoretischem noch auf klassisch logischem Wege bei.“
Rekursivität und Selbstreferenz als wesentliche Themen und Beweger des eigenen Denkens, Forschens und Schreibens stellen Kaehr ebenso wie seinen Doktorvater Gotthard Günther – und Andere – außerhalb eines wissenschaftlichen Mainstreams, der lediglich auf die positivsprachlichen Aspekte unseres Denkens zurückgreift, in denen Rekursion ganz zwangsläufig immer wieder auf das simple Feedback zurückfällt.
Gleichwohl genießt Rudolf Kaehr innerhalb der wissenschaftlichen Szene höchstes Ansehen und große Wertschätzung. Der Soziologe Dirk Baecker bewundert ihn für seine Unbestechlichkeit und Präzision. Friedrich Kittler empfand Zeit seines Lebens größten Respekt für Rudolf Kaehr und seine Arbeit, obwohl Kaehr Kittlers medienphilosophischen Ansatz als „etwas zu militärisch geprägt“ kritisierte.
Dieses „Außerhalb“ ist simultan dazu auch ein „Mittendrin“ – wie etwa auf der/den Seite(n) eines Möbiusbandes für Diejenigen, die eine „eher graphische Metapher“ bevorzugen -, denn Kaehr hielt mit seiner Kritik sowohl am FuE-Mainstream als auch an der kontinentalen sowie an der analytischen Philosophie keineswegs hinter dem Berg. In seinem Aufsatz „Einschreiben in Zukunft“ [7] sagt er:
„Dass in der positivsprachlichen Konzeption von Operativität, Strukturalität, Prozessualität usw. das exakte und operative Denken und Handeln überhaupt zu seinem konzeptionellen Abschluß gekommen sei, es kann dabei auf die Limitationstheoreme von Gödel-Rosser‑Church‑Markov hingewiesen werden, und dass daher das einzige non‑restriktive Medium einer Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik die Dichtung sei, da nur sie ohne Referenz auf eine vorgegebene Präsenz sich vollziehe, ist ein seit Hegels Attacken gegen den Formalismus in der Philosophie geläufiger Topos, der nichtsdestotrotz ohne Beweis geblieben ist.“
Bringt man dies zusammen mit den einleitenden Worten zu seinen Dortmunder Betrachtungen zu Selbstreferentialität und Kalkül [8], in denen er auf eine ernste Warnung Heinz von Foersters zurückgreift:
„Heinz von Foerster hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die neuen Bewegungen des Denkens, der Übergang etwa von der Selbstorganisationstheorie zur Autopoiese, der Paradigmawechsel, den der Radikale Konstruktivismus beansprucht, eines operativen Organons bedarf, wenn sie sich nicht wieder in der Inflation des Geredes auflösen sollen.“
– dann wird deutlich, dass es Kaehr seine ganze wissenschaftliche Vita hindurch um eben jene Entwicklung eines Organons geht, das eine formale Einschreibung von Selbstreferentialität ermöglicht.
Mehr noch, er bringt die kenogrammatischen Strukturen in Bezug zu sprachtheoretischen Ansätzen, etwa der differánce von Jacques Derrida.[9]
Und es war diese „Inflation des Geredes“, von der er Heinz von Foerster sprechen lässt, die ihn in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten immer mehr von der zeitgenössischen philosophischen „Poetik“ abstieß. Auf meine Frage nach neueren medienphilosophischen Ansätzen, etwa dem Bernhard Stieglers, antwortete er mir am Telefon aus dem fernen Glasgow: „Jochen, ich mag das ganze Zeugs gar nicht mehr lesen.“
Gleichwohl haben wir alle es seiner ihm eigenen Ambiguität zu verdanken, dass er für den Dialog, auch den philosophischen, immer offen war, und ich verdanke ihm ganz persönlich, dass er mich zum – auch philosophischen – Schreiben ermutigt und geradezu aufgefordert hat.
Er wendet sich nunmehr formalen und technischen Aspekten zu, das von Leon Chua 1971 erstmals geforderte passive elektronische Bauelement „Memristor“, des Widerstandes, der sich „an den Strom erinnert, der zuletzt durch ihn geflossen ist“, und dessen technische Realisierung durch Hewlett-Packard inspirieren ihn zur Memristik, einer Theorie der memristiven Systeme.
Gleichwohl setzt er dem aufkommenden Hype um den neuen elektronischen Baustein eine Kritik entgegen, in der er sich gegen die in der Informatik vorherrschende Konzeption von Lernen wendet. Er weist auf zwei bislang in der Informatik übersehene Probleme hin, das der Selbstreferentialität und das sog. Lokalisierungsproblem.
Die Memristik, die formal auf der Polykontexturalitätstheorie aufbaut, steht damit auch in einem scharfen Gegensatz zu den modernen Unternehmungen einer Artificial Life Bewegung und den Bestrebungen zum Quantum Computing.
Wenn nun die Hardware anstatt der Software „lernen“ soll, so wie dies von Jianhua Yang von HP angekündigt ist, dann muss der Lernprozess, so Kaehr, seinen materialen Ort, seine eigene Raum/Zeit-Struktur haben. Dem widerspricht aber jegliches klassisch herkömmliche Konzept von „software“, das prinzipiell keinen Ort kennt.[10]
„The learning matter (or the materiality of learning) is not a bowl of porridge. The ‘materiality of learning’ has its own time/space-structure. Hence any behavioral pattern, like a logical implication, in such a system is marked by the place it takes. Any design of a ‘cognitive’ pattern in a memristive system has to be addressed by the place it takes. The structural laws are designed by the memristive matter and not by a program of a theoretical formal system from the outside.“
Zuletzt arbeitet er an der Konstruktion zellulärer Automaten auf Basis der Morphogrammatik mit Hilfe der in Stephen Wolframs Programmpaket Mathematica enthaltenen Programmiersprache. Diese Simulationen zellulärer Automaten vermögen als Output Pixelfelder und Klangsequenzen zu produzieren, die weit über das hinausgehen, was von herkömmlichen zellulären Automaten bekannt ist. Einige der Audiopatterns erinnerten ihn an die Spielweise des Jazzpianisten Cecil Taylor.
Rudolf Kaehr lehnte Personenkulte – beispielweise die um Internet-“Gurus“ wie Jaron Lanier – strikt ab als rückwärtsgewandte und die lebendige Auseinandersetzung blockierende Kulturelemente. Es ist daher lediglich eine Frage der Fairness und der Vollständigkeit, wenn seinem Geviert der Weltmodelle an Position 4 sein Name hinter dem Günthers eingefügt wird.
„Zwischen Welt und Logik-Kalkül gibt es in der Graphematik prinzipiell nur vier Stellungen:
1. eine Welt/eine Logik (Tarski, Scholz),
2. eine Welt/viele Logiken (Grosseteste, Wilson),
3. viele Welten/eine Logik (Leibniz, Kripke) und
4. viele Welten/viele Logiken (Günther, Kaehr, Derrida).
Nach dieser Schematik regelt sich das Verhältnis von Realität(en) und Rationalität(en).“
Rudolf Kaehr bereicherte das Leben Vieler. Und ich bin dankbar, einer dieser Vielen zu sein.
Joachim Paul, Neuss, den 09. August 2016
Quellennachweise
[1] http://www.thinkartlab.com/Feyerabend/Feyerabend-Telegram.htm
[2] Kaehr, Rudolf; Computation and Metaphysics; in: ARIFMOMETR – An Archaeology of Computing in Russia; Georg Trogemann, Alexander Nitussov, Wolfgang Ernst (Eds.), Vieweg 2001 http://www.vordenker.de/rk/rk_comp_meta.htm
[3] Kaehr, Rudolf; Materialien zur Formalisierung der Dialektischen Logik und der Morphogrammatik 1973-1975; in: Günther, Gotthard; Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik; 2. Aufl., Hamburg 1978, Anhang mit eigener Nummerierung
[4] Goldammer, Eberhard von; Historischer Rückblick und Anmerkungen zu einem Projekt, das an einer Privat-Universität unerwünscht war …; www.vordenker.de 2007; http://www.vordenker.de/vgo/vgo_ein-ungeliebtes-forschungsprojekt.pdf
[5] Rheinberger, Hans-Jörg; Kommentar zu: „Zur Verstörung des (H)ortes der Zerstörung“ von Rudolf Kaehr; in: Kümmel, Schüttpelz (Hsg.), Signale der Störung, W. Fink-Verlag, Paderborn 2003; http://www.vordenker.de/rk/hj_rhein-kommentar.htm
[6] Kaehr, Rudolf; Zur Verstörung des (H)ortes der Zerstörung; in: Kümmel, Schüttpelz (Hsg.), Signale der Störung, W. Fink-Verlag, Paderborn 2003; http://www.vordenker.de/rk/rk_stoerung.pdf
[7] Kaehr, Rudolf; Einschreiben in Zukunft, publiziert in: ZETAH 01, Zukunft als Gegenwart, Rotation Zukunft, Berlin 1982, http://www.vordenker.de/ggphilosophy/kaehr_einschr-in-zukunft.pdf
[8] Kaehr, Rudolf; Kalküle für Selbstreferentialität oder selbstreferentielle Kalküle?; in: Forschungsberichte 288, S.16-36, FB Informatik, Universität Dortmund 1990 – http://www.vordenker.de/rk/rk_dortmund.pdf
[9] Khaled, Sandrina; Kaehr, Rudolf; Über Todesstruktur, Maschine und Kenogrammatik – Rudolf Kaehr im Gespräch mit Sandrina Khaled; Information Philosophie, 21.Jahrgang, Heft 5, Dez 1993, Lörrach;
http://www.vordenker.de/ggphilosophy/kaehr_tdstruktur_maschine_kenogr.pdf
[10] Kaehr, Rudolf; Memristics: Why memristors won’t change anything – Remarks to Todd Hoff’s “How will memristors change everything?“ Thinkartlab 2010 – http://www.vordenker.de/rk/Why-Not.pdf
Kinder und Jugendliche im Schulalter in Aufnahmeeinrichtungen des Landes
Vor Windows 10 wird gewarnt
Türkei verstößt gegen Völkerrecht – Ausreiseverbot!
Ein Gedanke zum Ausreiseverbot für Akademiker aus der Türkei: Welche Konsequenz hat das für die Kontrollinstanzen?
Sicher nur dann, wenn es in der Türkei ein zentrales Akademikerregister gäbe, wäre die Selektion zu gewährleisten.
In Wahrheit dürfte auch in türkischen Pässen nichts über den Bildungsabschluss stehen. Folgerichtig dürfte die „negative Akademikervermutung“ bestehen, wonach jeder türkische Staatsbürger im Fall der Ausreise nachweisen müsste, NICHT Akademiker zu sein. Das ist nahezu unmöglich.
Konsequenz: Das Ausreiseverbot gilt praktisch für alle türkischen Staatsbürger.
Wer ein ganzes Volk oder zumindest namhafte Teile (Akademiker) einsperrt, kreiert einen „Unrechtsstaat“. Mit diesem Treiben hat Erdogan, hat die Türkei die Grenze zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 e des Römischen Statuts des internationalen Gerichtshofs „Freiheitsentziehung“) überschritten und jedweden Anspruch, Mitglied einer internationalen Staatengemeinschaft (zumal einer militärischen – NATO) sein zu können, verloren haben, zumal die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei damit endgültig gebrochen ist.
Wann bestellt Merkel eigentlich den türkischen Botschafter ein?
(Kann sie nicht. Der Botschafter wurde im Juni wergen der Armenien-Resolution aus Berlin abberufen.)
A few Remarx zu Arbeit und Wert – inspired by Michael Seemann
Neulich las ich den Blogbeitrag von Michael Seemann aka mspr0 mit dem Titel „Ich lehne Marx‘ Arbeitswerttheorie ab und hier ist warum“. Ich fand ihn recht schlüssig, und – auch emotional berührend und tröstlich. Also erst mal danke, mspr0!
Warum? Weil‘s mir oft genauso geht. Freunde von mir, die sich nach dem althergebrachten, eindimensionalen und ziemlich kaputten Polit-Kompass eher links einordnen würden, tja, sie mögen diese Theorie, manche schwören sogar drauf.
Und schlimmer noch, der beste Platz ist sowieso zwischen den Stühlen. Denn Freunden gegenüber, die sich eher nicht als „links“ bezeichnen, aus den unterschiedlichsten Gründen, yep, davon – ja Schimpf und Schimmel über mich – habe ich auch ein paar, lehnen diese Theorie so vollständig ab, dass ich fast jedes Mal in einen Verteidigungsmodus gerate, um ihnen gegenüber zumindest die historische Wichtigkeit dieser Theorie hervorzuheben, denn sie wollen nicht mal diese Relevanz wenigstens anerkennen. Dabei hat es was mit der Renaissance und der bürgerlichen Renaissance-Revolution zu tun. Hier ist möglicherweise eine gewollte, leicht genervte Form der Geschichtsvergessenheit im Spiel.
Dazu kann ich nur sagen, dass das verstehende Erinnern, die Anamnesis, mehr ist als bloßes Speichern, es ist ein kognitiver Prozess, der lebenden Systemen, also uns Menschen vorbehalten ist und bleibt. Und es hilft nichts, auf das Internet zu verweisen, da stünde doch sowieso schon alles. Das entbindet einen nicht von der Verantwortung, sich den kognitiven Prozessen des Verstehens auszusetzen. Die Wikipedia nämlich – für sich betrachtet – „weiß“ nichts, sie ist nur eine Speicherfunktion – aber auch nicht weniger.
Seemann sagt nun, dass ihm schon in den Grundsätzen der Arbeitswerttheorie etwas aufstößt. Dem kann ich mich anschließen. Denn, nach Marx ist die Arbeit die Quelle aller Werte. Das hat er mit den Bürgern der Renaissance-Revolution gemeinsam, die Arbeit und Fleiß – als Werte – dem nicht arbeitenden Adel und der klerikalen vulgo kirchlich-platonischen Idee der reinen Form entgegensetzten. Der Wert als Kategorie, im Gegensatz zum Glauben an die göttlichen Formen. Und, der Begriff der Arbeit, insbesondere der körperlichen Arbeit, mutierte von einer Form der Strafe – im Schweiße deines Angesichts sollst du … – zu einer Tugend.
Als kleine Ergänzung zu Seemanns Beitrag möchte ich zwei weitere Aspekte in die Diskussion bringen – just my 2 cents.
Erstens, nehmen wir beispielsweise mal einen Klavierbauer. Er baut und verkauft Klaviere, damit leistet er gesellschaftlich relevante Arbeit, er produziert Tauschwerte. Kauft nun ein Pianist ein solches Klavier und gibt damit Konzerte, für die er Eintritt nimmt, produziert auch er die Dienstleistung „Klavierkonzert“ als Tauschwert. Das Klavier ist für ihn ein Produktionsmittel.
Wenn aber, sagen wir, eine Ingenieurin oder ein Handwerker ein Klavier kauft, um sich und vielleicht andere abends im häuslichen Wohnzimmer durch eigenes Klavierspiel zu erfreuen und zu entspannen, dann hat dies nach Marx lediglich einen individuellen Gebrauchswert. Das Klavier ist nicht mehr Produktionsmittel sondern „Luxusgut“. Hier bricht die ökonomische Wertschöpfungskette ab, – die, wie Viele schon wissen, ja eigentlich keine Kette sondern ein Kreislauf sein sollte. Aber tut sie das wirklich? Denn sicher trägt das individuelle Klavierspiel zum Erhalt oder gar zur Steigerung der beruflichen Produktivkraft und Kreativität der Ingenieurin und des Handwerkers bei.
Das lässt sich jedoch nicht mehr vordergründig „messen“, denn es gibt keinen Preis, keinen Tauschwert.
Und auf einmal bewegen wir uns argumentativ auf ganz gefährlichem Boden. Denn es gibt, wie wir inzwischen wissen, die Bestrebungen, auch das zu messen, jenseits soziologischer Stichproben- und Feldforschungen per Fragebogen. Diese Bestrebungen stecken beispielsweise in der – ohne Zweifel ökonomisch motivierten – Frage von Zuckerbergs Facebook: „Was tust du gerade?“ Und es murmelt weiter in den social networks, „auch du bist interessant, zeige doch der Welt, wie toll du bist. Kriege Likes und verteile Likes!“ So funktioniert unerfragte Messung heute.
Informationsgesellschaft und Digitalisierung bringen einen ganz neuen Ansatz hinein, den des Versuchs der totalen Vermessung der Welt per Big Data. Das Dilemma besteht hier darin, dass auf der einen Seite Freiheit und damit auch Zweckfreiheit im Tun als Menschenrecht betrachtet wird und andererseits diese Freiheit wieder als Zweck recycelt werden soll, als Prozess der Selbstoptimierung, zu dem – ganz natürlich – auch bspw. die musikalische Entspannung zählt, nämlich dann, wenn sie quantitativ erfassbar gemacht wird, die Apple Watch lässt grüßen ….
Also Holz-, äh, Digitalauge sei wachsam.
Der zweite Aspekt ist grundsätzlicher und führt zu Vilém Flusser (1920 – 1991) – womit ich ein weiteres Mal in einen Verteidigungsmodus gerate. „Du und dein Flusser!“ – „Wann zitierst du den denn das nächste Mal im Landtag?“ – „Dein Lieblingsphilosoph!“
Nee, stimmt nicht. Ich habe keinen Lieblingsphilosophen und einen Guru schon gar nicht. Damit wird man diesen ohne Zweifel klugen Leuten nicht gerecht. Verherrlichung hat noch nie irgendwas Sinnvolles hervorgebracht.
Das Sinnvolle bei Flusser hingegen besteht in der außergewöhnlichen Kombination aus seinem phänomenologischen Ansatz, mit dem er sich klar in die Tradition Edmund Husserls stellt, seinen kulturhistorischen und sprachbezogenen Blickwinkeln sowie seinem Vermögen, ausgeprägt assoziativ und springend zu denken, gepaart mit Charisma im Live-Vortrag. Im Arbeitskreis Medienphilosophie an der FH Düsseldorf sagte mal jemand respektlos, man könne den Flusser „nur als Komiker“ lesen. Ich kann das bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen, jedoch nicht gutheißen. Wildes Denken wie bei Flusser hat in der Wissenschaft genauso seinen Platz, sollte seinen Platz haben, wie akribisches Ableiten.
Nicht umsonst hat Friedrich Kittler 1991 Flusser an die Ruhruniversität Bochum geholt. Die Bochumer Vorlesungen, unter dem Titel „Kommunikologie weiter denken“ als Buch erschienen, sind ein Kracher, ebenso wie sein Vortrag 1991 auf der CulTec in Essen, „Informationsgesellschaft, Phantom oder Realität?“. Womit seine anderen Publikationen natürlich nicht ins Abseits geschoben werden sollen.
Flussers Argumentation läuft gerafft dargestellt so ab: Arbeit, herstellende Arbeit, die Produktion von Gegenständen, Artefakten, besteht darin, dass Menschen Materie in eine bestimmte Form bringen. Sie „informieren“ also die Materie. Und das Resultat ist Künstliches, Her-Gestelltes. Um es anschaulicher zu machen, können für dieses in-Form-bringen die Tätigkeiten des Gießens, Pressens oder Prägens als Beispiele herangezogen werden.
Dabei lassen sich zwei Phasen der Arbeit unterscheiden. In der ersten Phase wird die Form ausgearbeitet, entworfen, und in der zweiten wird die Form auf den oder die Rohstoffe angewandt.
Man stelle sich eine Presse vor, die metallene Schreibfedern für Füller produziert. Der Wert einer Schreibfeder ergibt sich nun aus der Tatsache, dass man damit schreiben kann. Und das verdankt sie ihrer Form, die Form ist aber Sache des Designers!
Der Wert steckt in der Form, in der In-form-ation.
Die Quelle der Werte ist also nicht die Arbeit aus Phase 2 des Aufprägens der Information auf die Materie. Die Quelle der Werte ist der Designer. Und dieser Designer, der Entwerfer, so Flusser, hat bei Marx nie ganz reingepasst.[1]
Außerdem lässt sich feststellen, dass diese Phase 2 des Prägens, Gießens, Pressens, des Informierens der Materie sich ganz wunderbar zur Automatisierung eignet. Maschinen können das besser als wir. Und die Arbeit, als menschliche, entfremdete Arbeit, ist futsch.
In „Kommunikologie weiter denken“ drückt Flusser es am Beispiel eines Werkzeugmachers noch drastischer aus [2]:
„Ein Mensch macht einen Blueprint, eine Blaupause, eines Schlüssels. Dann nimmt er eine Maschine, die diese Zeichnung in ein Stahlwerkzeug überträgt. Eine andere Maschine schiebt das Stahlwerkzeug in die dritte Maschine. Dann kommt eine Maschine und schiebt die Stahlplatte hinein, und es geht „tak-tak-tak“, und auf der anderen Seite fallen die Schlüssel heraus. Der Mensch, der das gezeichnet hat, ist gar nicht mehr dabei. Das ist das Ende des Marxismus. Der Mann ist gar nicht mehr beteiligt daran. Er hat die Sache irgendwo formal entworfen. Weder das Material noch die Arbeit ist etwas wert, sondern nur der Entwurf. Darum habe ich so lange auf dem Platonismus bestanden. Das ist doch eine außerordentlich platonische Idee. Dieser Designer ist doch eigentlich jener Philosoph, der die Form betrachtet, die „Schlüsselheit“.
Aus seiner theoretischen Sicht entstehen automatisch das Stahlwerkzeug und die Stahlindustrie und die Industriegesellschaft. Unsere Vorurteile, was die menschliche Arbeit betrifft, zerbrechen unter dieser Analyse.
Der Wert liegt in der Information. Das Wichtige am Begriff der Information ist, sie ist nichts Materielles. Information ist übertragbar von Materie zu Materie. [….] Wenn man die informatische Gesellschaft verstehen will, muss man das vollkommen intus haben. Man muss den Unterschied zwischen soft und hard im Bauch haben, um das zu verstehen. Der Wert des Kuchens liegt im Rezept.“
Daraus lässt sich auch ein schlüssiger Vorschlag für ein mögliches Definitionselement für den Begriff „Informationsgesellschaft“ ableiten:
„In der Informationsgesellschaft wird immer mehr Gewicht auf das Erzeugen und Bearbeiten von reinen Informationen gelegt und immer weniger Gewicht auf das Erzeugen informierter Gegenstände.“
Das mag nun das Ende des Marxismus als schlüssige Arbeitswerttheorie sein, wie Flusser behauptet, es ist jedoch keinesfalls das Ende im Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen.
Darüber hinaus kann man auch – im eingehenden Informationszeitalter – die very big question stellen nach dem Sinn und Zweck alles Maschinellen.
Der Mathematiker und Philosoph Rudolf Kaehr sagte dazu mal [3]:
„Also, man kann das so weit sich ausdenken, dass wir möglichst alles, was wir heute überhaupt haben, an die Maschine abgeben können, um an etwas ‚ranzukommen, was uns bis dahin immer verdeckt war, nämlich sozusagen die reine Faktizität unserer Existenz.“
In diesem Sinne, zum weiter Draufrumdenken, just my 2 cents.
Nick H. aka Joachim Paul
Quellen:
[1] Flusser, Vilém; Die Informationsgesellschaft, Phantom oder Realität?; Vortrag auf der CulTec in Essen vom 23.11.1991, Suppose-Verlag, Köln 1999
[2] Flusser, Vilém; Kommunikologie weiter denken – Die Bochumer Vorlesungen; Frankfurt a.M. 2009, S. 142ff
[3] Kaehr, Rudolf, & Schmitt, Thomas; FREISTIL, oder die Seinsmaschine, Mitteilungen aus der Wirklichkeit, Interview, WDR, Köln, 1993, online: http://www.vordenker.de/ggphilosophy/freistil.htm
TOP 6, 08.07.2016 – LT NRW – Tariftreue- und Vergabegesetz NRW
Meine Rede zu TOP 6 am 08. Juli 2016, „Gesetz über die Sicherung von Tariftreue und Sozialstandards sowie fairen Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (Tariftreue- und Vergabegesetz Nordrhein-Westfalen – TVgG – NRW)“ – Gesetzentwurf der Landesregierung – Drucksache 16/12265 – 1. Lesung
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bombis. – Für die Piratenfraktion spricht jetzt Herr Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank, verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Wir befassen uns heute in erster Lesung mit dem neuen Entwurf für das Tariftreue- und Vergabegesetz. Wir Piraten bleiben bei der Position: Öffentliche Vergabe muss frei von Sozialdumping und menschlicher Ausbeutung sein und bleiben.
Auch ökologische Standards müssen heutzutage selbstverständlich Beachtung bei Ausschreibungen finden. Von daher können wir dem ganzen Zirkus, den die Kollegen von CDU und FDP hier veranstalten, überhaupt nichts abgewinnen.
Wissen Sie, Herr Wüst, Herr Bombis, ich habe Ihnen sehr genau zugehört. Ich habe den Eindruck, dass hier dann immer so ein Geist von ökonomistischer Eindimensionalität durch die Hallen weht. Das ist wirklich schwer auszuhalten.
(Beifall von den PIRATEN)
Die Landesregierung hat sich also entschlossen, das Gesetz zu novellieren, um es anwenderfreundlicher auszugestalten. Es wurde eben schon erwähnt, es geht unter anderem um die Einführung des Bestbieterprinzips und um neue Schwellenwerte. Wir werden natürlich im Ausschuss prüfen, inwieweit nun Rechtssicherheit und Anwenderfreundlichkeit gegeben sind, aber auch ob die genannten sozialen und ökologischen Ziele erreicht werden.
Lassen Sie mich den ökologischen Aspekt herausgreifen. Es ist auch so ein bisschen die Förderung des Bewusstseins von „Care-about“ für unseren Planeten auf kommunaler Ebene. Wir halten das für wichtig.
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das beste Gesetz der Welt verfehlt seine Wirkung, wenn die Umsetzung nicht kontrolliert wird.
Im vergangenen Jahr wurde bereits bei der Evaluierung des Gesetzes ein Defizit bei den Kontrollen festgestellt. Damals war die Prüfbehörde noch nicht zu 100 % einsatzfähig. Jetzt wird die Prüfbehörde in das Landesministerium für Arbeit verlegt. Wir fordern Sie nachdrücklich auf, eine wirkungsvolle Kontrolle der Einhaltung der sozialen und ökologischen Vorgaben sicherzustellen. Es ist im Interesse aller Beteiligten, wenn die schwarzen Schafe auffliegen. Nur so kann es einen fairen Wettbewerb um öffentliche Aufträge geben.
Das bringt mich zu einem weiteren Punkt, leider, muss ich sagen. Denn es ist immer noch ein Trauerspiel, dass die Große Koalition in Berlin noch immer kein bundesweites Korruptionsregister auf den Weg gebracht hat. Damit ist bis heute nicht sichergestellt, dass nachweislich wirtschaftskriminelle Unternehmen konsequent von der Vergabe ausgeschlossen werden. Es ist zwar zu begrüßen, dass das Korruptionsregister hier in Nordrhein-Westfalen vorhanden ist, aber ein vollwertiger Ersatz ist das aber nicht.
Ich komme zum Ende: Faire und nachhaltige öffentliche Beschaffung ist keine Kür, es ist Pflicht. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss. – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN)
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Frau Kollegin Asch.
TOP 1, 08.07.2016 – LT NRW – Aktuelle Stunde – Brexit, 1. und 2. Rede
Meine Rede zur Aktuellen Stunde, TOP 1 am 08. Juli 2016 „Wie schätzt die Landesregierung die Auswirkungen des „Brexit“ auf die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nordrhein-Westfalen und dem Vereinigten Königreich ein und welche politischen Maßnahmen gedenkt sie zu ergreifen?“ –
Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der CDU – Drucksache 16/12418 – in Verbindung damit
„Mögliche Auswirkungen des Austritts des Vereinten Königreichs aus der Europäischen Union auf Nordrhein-Westfalen“
Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/12419
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Lindner. – Für die Piraten spricht Herr Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen lieben Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Saal und zu Hause! Die Menschen im Vereinigten Königreich haben sich mit knapper, aber dennoch unmissverständlicher Mehrheit für den Brexit entschieden. Sie haben mehrheitlich den Weg der Instabilität, der potentiellen Desintegration – insbesondere der im eigenen Land – und der politischen und wirtschaftlichen Verunsicherung gewählt. Und sie wurden gesellschaftlich gespalten. Doch es ist noch mehr passiert. Das zeigt auch diese Debatte hier.
Nach dem Brexit kann in Europa – in Brüssel, Berlin, Paris und auch Düsseldorf – nicht wie bisher weitergemacht werden. Wir haben den Brexit in einer ausführlichen und guten Debatte im Europaausschuss behandelt und behandeln ihn jetzt hier im Rahmen der Aktuellen Stunde im Plenum. Das ist gut so. Die Debatte beschäftigt sich aus unserer Sicht aber zu sehr mit vordergründigen Wirtschaftseffekten, mit dem müßigen Aufrechnen von Import- und Exportvolumina. Da hilft es auch nicht, Herr Laschet und Herr Engstfeld, wenn man die falschen Beispiele wählt. Bei ERASMUS ist der EWR mit dabei. Da mache ich mir die wenigsten Sorgen.
(Armin Laschet [CDU]: Ne, ne, ne!)
Ich mache mir viel mehr Sorgen darüber, was mit dem Forschungsstandort Europa passiert, und über die britischen Wissenschaftler, die händeringend auf Mittel aus Brüssel angewiesen sind.
(Beifall von den PIRATEN)
Das hilft uns zum jetzigen Zeitpunkt aber kaum weiter. Es macht auch wenig Sinn, sich an Farage, Cameron oder Johnson abzuarbeiten.
Vielleicht gestatten Sie mir ein persönliches Wort als Nachfahre eines Mannes und einer Frau, die den Zweiten Weltkrieg noch als Erwachsene mitgemacht haben. Ich habe das Bild von Menschen vor Augen, die sich politisch vor der Verantwortung drücken, auf den Scherben tanzen und Champagner trinken. Ich meine die AfD, die UKIP und den Front National. Dieses Bild, das ich vor Augen habe, ist schier unerträglich für einen überzeugten Europäer!
(Beifall von den GRÜNEN, der SPD, der CDU und den PIRATEN)
Wir müssen uns jetzt erst einmal fragen: Wie konnte es soweit kommen? Zweitens ist zu fragen: Wo liegt möglicherweise unsere Verantwortung? Und drittens müssen wir uns fragen: Was muss jetzt passieren?
Zur ersten Frage: Wir wissen, die Leave-Kampagne war von populistischer Fehlinformation geprägt. Sie hat es bedauerlicherweise geschafft, in Teilen der Bevölkerung vorhandene Ressentiments gegen Ausländer und Muslime, das Gefühl des wirtschaftlichen und sozialen Abgehängtseins sowie den Hass auf den vermeintlichen Sündenbock Brüssel gezielt anzusprechen und die Stimmung aufzuheizen. Doch – da müssen wir auch ehrlich sein – die Europäische Union und ihre Protagonisten waren da auch ein allzu einfach zu schlagender Gegner. Denken wir beispielsweise an den undemokratischen Umgang mit CETA und TTIP oder an die Allmachtsfantasien der EZB. Wir wollen und brauchen ein anderes Europa!
(Beifall von den PIRATEN)
Seit langem fehlt die Vision für ein Europa jenseits der Binnenmarktintegration oder des Spardiktats. Was fehlt, ist Zuversicht. Es fehlt Zuversicht von Zagreb bis Hammerfest – ja, ich weiß, das liegt in Norwegen – und von Zypern bis Belfast. Was fehlt, ist der Gestaltungswille für eine lebenswerte Zukunft in Europa. Stattdessen erfahren die Menschen und insbesondere die jungen Europäer, dass viel Stillstand verwaltet wird. Das muss sich ändern!
(Beifall von den PIRATEN)
Wo liegt denn unsere Verantwortung? Unser Politiksystem – dazu gehört auch das in Nordrhein-Westfalen – braucht ein Update; denn momentan schafft es nur weiteres giftiges Misstrauen in die Politik und die Politiker.
Geld vernichtende ÖPP-Projekte, politisches Postengeschacher, das Platzen der Verfassungskommission – das alles sind kleine, manchmal klitzekleine Puzzlestücke im Big Picture des politischen Systemversagens.
Wir erleben aber auch die politischen Nachwehen der Finanz- und Bankenkrise von 2007. Mit der jahrzehntelangen Deregulierung der Finanzmärkte wurde nicht nur die Wirtschaft, sondern auch unsere Demokratie destabilisiert. Die namhafte Soziologin an der London School of Economics, Dr. Lisa MacKenzie, hat sogar die These aufgestellt, dass das Ergebnis des Brexit-Referendums in Großbritannien eine verspätete Absage an die britische Politik gewesen sei.
Was muss jetzt passieren? Das Ergebnis des Brexit-Referendums ist auch ein geteiltes Votum. Das ist gefährlich. Die Jüngeren, sofern sie zur Wahl gegangen sind, haben sich mit großer Mehrheit für einen Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen. Je älter die Wählergruppe, desto geringer die Zustimmung zur EU.
Es bedarf einer deutlichen Senkung des Wahlalters bei Wahlen und Volksentscheiden,
(Zuruf von der FDP: Quatsch!)
auch weil diese immer öfter fundamentale Zukunftsfragen behandeln. Diese Referenda sind sehr gut vorzubereiten. Vor allem die Jugend muss ihre eigene Zukunft direkt mitgestalten dürfen.
(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von Christian Lindner [FDP])
Wir wissen: Der zentrale gesellschaftliche Konflikt unserer Zeit, den wir Europa austragen und zukünftig austragen werden – das zeigt sich vor allen Dingen in Südeuropa –, könnte lauten – davor habe ich große Angst –: alt versus jung. Die junge Generation von Cádiz bis Tallinn ist die Hauptverliererin. Dieser Konflikt ist potenziell spaltend und muss daher mit äußerster politischer Sorgsamkeit angegangen werden.
Wir Piraten wollen einen Ausgleich, aber im Zweifel stehen wir immer für die Zukunft.
(Beifall von den PIRATEN)
Was muss noch geschehen? Wir müssen die soziale Union ausbauen und eine soziale Komponente, soziale Mindeststandards, angemessene Unternehmensbesteuerung ohne gewollte Steuerschlupflöcher schaffen. Sonst kann mit der Europäischen Union kein positives Bild vermittelt werden.
Wir sollten die Menschen an einer verfassungsgebenden Versammlung, an einem Verfassungskonvent für die Europäische Union, teilhaben lassen. Ziel muss es sein, das politische System der Europäischen Union und ihre Beziehung zu den Mitgliedstaaten und Regionen neu zu strukturieren und auf eine wirklich demokratische Basis zu heben. Hierbei kann auch ein Europa der Regionen weitergedacht werden.
Wir brauchen eine demokratische Stärkung des Europäischen Parlaments mit mehr Initiativ- und Beschlussrechten. Denn es ist die einzige Institution, gegen die sich die EU-Skepsis nicht direkt gerichtet hat.
(Christian Lindner [FDP]: Darf das Parlament dann auch über CETA abstimmen?)
– Wie gesagt: neu strukturieren. – Wir müssen darüber erst einmal reden, Herr Lindner.
(Christian Lindner [FDP]: Sagen Sie das mal!)
– Das muss erst einmal auf die Agenda. Dann müssen wir debattieren. Ich gebe Ihnen hier kein abschließendes Votum.
(Zuruf von Christian Lindner [FDP] – Gegenruf von Michele Marsching [PIRATEN])
– Lassen Sie mich bitte zum Ende kommen. – An der Demokratisierung und Transparenz der EU weiterzuarbeiten, ist der einzig gangbare Weg, wenn man nicht zurück in die dunkle Vergangenheit nationaler Egoismen – da bin ich bei Ihnen – zurück möchte.
Ich komme zum Schluss. Der Brexit zeigt: Wir brauchen eine positive Vision für unseren Kontinent. Denn das Beispiel der Europäischen Union ist historisch beispiellos. Der Brexit ist auch beispiellos. Oftmals bedeutet die EU für die junge Generation nur noch einen leblosen Binnenmarkt oder ein chancenvernichtendes Spardiktat.
Wir brauchen ein Europa des sozialen Ausgleichs, der politischen Transparenz, der Bildung in der digitalen Welt und der fairen Unternehmensbesteuerung.
(Beifall von den PIRATEN)
Ein solches Systemupdate ist verfügbar. Lassen Sie uns das angehen! – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von der CDU: Nix verstanden!)
Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Paul. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Lersch-Mense.
2. Redeblock:
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Engstfeld. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Dr. Paul.
Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank, verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Lieber Stefan Engstfeld! Ich kann dir versichern: Es geht weiter. Und wir werden uns hier intensiv weiter über Europa Gedanken machen und Handlungskonzepte entwickeln.
Zunächst einmal eine kleine Replik an Herrn Lindner, der es mehr oder weniger erfolgreich immer wieder versucht, mich beim Reden durcheinanderzubringen. Einen Supranationalismus, den Sie wahrscheinlich angesprochen haben, wenn jetzt das europäische Parlament allein über Großabkommen entscheidet, den kann natürlich niemand wollen. Das bringt mich aber zu der Frage, wie wir denn die Entscheidungsmodi für solche überregionalen Dinge in Zukunft organisieren.
(Zuruf von Armin Laschet [CDU])
– Herr Laschet, ich komme gleich zum zweiten Punkt. Es ist manchmal hilfreich, sich Leute anzusehen und zu Gemüte zu führen, die in der Vergangenheit mit ihren Einschätzungen der Zukunft richtig gelegen haben. Wenn sie Einschätzungen vorgebracht haben für die weitere Zukunft, dann macht es Sinn, sich das einmal anzusehen und wenigstens darüber nachzudenken.
Ein solcher Mensch war der Medienphilosoph aus Prag, der aus Prag stammende Vilém Flusser, ein Jude, der auch die Außensicht hatte, der sich von Brasilien aus die Entwicklungen in Europa angesehen hat. Er hat die These aufgestellt, dass in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts der Nationalismus in Rückzugsgefechte gerät. Und diese Einschätzung sollte uns eigentlich Mut geben. Die nationalistischen Thesen kennen wir ja von den entsprechenden Vertretern vom rechten Rand.
Er hat die Hoffnung ausgesprochen, dass sich auf der anderen Seite die Regionen neu organisieren zu einem übergeordneten Gebilde. Darüber sollte man einmal nachdenken – Stichwort AdR, Ausschuss der Regionen. Vielleicht vermittelt man ihm mehr Kompetenz in Brüssel. Das würde Sinn machen.
Ein zweiter ganz wesentlicher Punkt, der jetzt nicht positiv, sondern in der Argumentation negativ zu Buche schlagen wird, ist die Einschätzung von Manuel Castells in seinem Werk „Das Informationszeitalter“, 1998 geschrieben, der gesagt hat, dass er die Gefahr sieht, dass in der Zukunft im 21. Jahrhundert die Menschen wesentlich mehr Entscheidungen auf der Basis dessen treffen, was sie glauben oder glauben zu wissen, anstatt auf der Basis dessen, was man nachschlagen und nachlesen kann. Das halte ich für eine gefährliche Entwicklung. Da müssen wir im Bereich Bildung gegenarbeiten.
Ein vierter Punkt: Ich habe letzte Woche – ich mache das schon mal – die NRW-SPD „Dienstagspost“ gelesen. Das ist so ein Newsletter.
(Zurufe)
– Ja, da sprang mir ein Satz von Hannelore Kraft ins Auge, Minister Lersch-Mense hat ihn gerade auch noch einmal gesagt, ein ganz einfacher Satz: „Europa muss sozialer werden.“
Dem kann man nur zustimmen. Damit ist nicht alles gesagt. Man kann sich natürlich jetzt in sozialphilosophischen Seminaren damit ein Jahr lang beschäftigen und über den Satz meditieren. Es müssen diesem Satz ganz dringend Handlungen folgen.
Wir brauchen – ich sage es noch einmal – ein System Update für Europa. Und an die Adresse all derjenigen, die Europa für parteipolitisches Kalkül benutzen: Mit unserem Europa zockt man nicht. – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Duin.