Der “Shitstorm” als Waffe des Protests – Beitrag aus der FAZ vom 18.10.2012, S. 6, Rubrik Staat und Recht – so wie abgedruckt.
Wer vom Netz und seinen Wellen spricht, muss sich auch über die Finanzwellen empören – eine Erwiderung auf Han / Von Joachim Paul;
Wenn Byung-Chul Hans Aufsatz (“Staat und Recht” vom 4. Oktober) als philosophischer Beitrag zur Krisenanalyse der repräsentativen Demokratie, der Repräsentation in Journalismus und Autorenschaft, der Repräsentation schlechthin gesehen werden soll, muss er sich selbst dem im Aufsatz bemühten Kriterium der Qualität stellen. Der weitgehend synonyme Gebrauch der Termini “digitaler Habitus”, “shitstorm” und “Piratenpartei” lässt jedoch den Eindruck entstehen, als sei die Textproduktion lediglich Selbstzweck. Zur Analyse der Krise der Repräsentation ist es außerdem unzureichend, sich lediglich einer Täter-Opfer-Logik zu befleißigen und ausschließlich die Sichtweise des “Früher war alles besser” zu bedienen. Denkfehler sind die Folge.
So wird die Ursache der Krise der repräsentativen Demokratie wesentlich im “digitalen Habitus” verortet. Auf die Idee, dass dieses Netzbürger-Bewusstsein im Verein mit der Piratenpartei – und als internationale Bewegung – vielmehr der Versuch einer politischen und kulturellen Antwort auf ebenjene Krise sein könnte, kommt der Autor nicht. Denn unsere Repräsentationsverhältnisse sind bislang nicht über eine parlamentarisch beschränkte Demokratie hinausgekommen. Speziell auf kulturellem und wirtschaftlichem Feld existieren demokratische Leerstellen, die durch Kollektivmonarchien der Qualitätsbewertung und des Friedman-Fisherschen Monetarismus besetzt werden. Souverän ist dort aktuell derjenige, der betriebswirtschaftlich kontaminiertes Denken am effizientesten umsetzen kann, der über Geld und Geldschöpfung verfügt und in der Lage ist, Marktzugänge zu kontrollieren. Das gilt auch für den Journalismus und die Autorenschaft. Die Möglichkeit des Selbstverlegens ist hier ein Segen, auch wenn es den “Lärmpegel” erhöht. Das müssen wir aushalten.
Wer vom Netz und seinen Empörungswellen spricht, muss ebenfalls von Finanzwellen und ungedämpften Geldströmen sprechen und sich dort empören. Auch sie gehören zur Phänomenologie des Internets und sind ebenso zu kritisieren. Hier ist der “shitstorm” als legitimes Mittel des politischen Protests, als digitaler Ausdruck des Zornbürgers sogar zu begrüßen. Ihn als bloßes Mobbing zu deklassieren ist undialektisch und beleuchtet nur die dunkle Seite des Begriffs. Gleichwohl haben wir dort noch zu lernen.
Wir leben im Zeitalter der Blasen. Finanzblasen werden mit postmodernen Sprechblasen beantwortet, auch mit solchen von Ratingagenturen, die lediglich die Bonität von Unternehmen bewerten und sich nun aufschwingen, ganze Staaten zu bewerten – nach betriebswirtschaftlichen Kriterien. Die Komplexität von Staat, Gesellschaft und Kultur wird so ausschließlich den Regeln der Ökonomisierbarkeit unterworfen. Dass versucht wird, Handlungsschemata aus Regelwerken zu gewinnen, ist nicht grundsätzlich abzulehnen, dass die Ökonomie hier jedoch als einziges Schema Anwendung findet, ist die eigentliche Katastrophe.
Nationalstaaten in der Hitparade, die Macht der Serie, der Kette, der Liste, der Hierarchie. Und das Ausblenden all jener Relationen, die sich nicht über ökonometrische Zusammenhänge erfassen und beschreiben lassen. Geschieht dieses Ausblenden eher unbewusst, kann von Dilettantismus und Inkompetenz gesprochen werden, andernfalls haben wir es mit ungezügelter Gier und krimineller Energie zu tun, der “Politik” des Pavianhügels. Das ist das vielleicht deutlichste Symptom der Krise des Denkens, die damit auch zu einer Krise des politischen Handelns wird. Aber die Zeit der bloßen Hierarchien, der Vorherrschaft des Seriellen, der heiligen und heroischen Herrschaften ist endgültig vorüber. Es funktioniert nicht mehr.
Netzwerk und Prozess – beide schon lange in Gang – sind entdeckt. Wir sollten uns dem stellen. Die Welt ist vernetzt. Sie war es schon immer. Jedoch ist Konstruktion vermittels Technik ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir Verstehen nennen. “Wir müssen erst entdecken, was wir da erfunden haben”, sagte der auch von Herrn Han bemühte Vilem Flusser. Dass die Erfindung eines neuen Mediums zu politischen und kulturellen Verwerfungen führt, wissen wir schon. Der Buchdruck hatte es vorgemacht. Uns allen gemein ist die Erkenntnis, dass die Buchdrucktechnik zu den Ermöglichungsbedingungen des Nationalstaates und der repräsentativen Demokratie gehört. Einer kritischen Philosophie angemessen wäre die Frage, wofür denn das weltweite Datennetz Ermöglichungsbedingung sein könnte.
Doch die zeitgenössische Philosophie bleibt weit hinter ihrem Anspruch zurück, im Reflektieren auf das Innere ihrer eigenen Geschichte sieht sie die Linearität nicht, “die nicht der Verlust noch die Abwesenheit, sondern die Verdrängung des mehrdimensionalen symbolischen Denkens ist” [Jaques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M., 1974, S. 153] Derjenige Teil der Philosophie, der sich “analytisch” nennt und von jeher Dialektik in das Reich der Esoterik verbannte, entdeckt gerade den Hegel, ein kleiner Hoffnungsschimmer. Die anderen “richtigen” Philosophen arbeiten sich an Klassikern wie Heidegger ab. Sinnstiftung und Trost in der Poesie. Nicht, dass die Beschäftigung mit Heidegger unerquicklich wäre! Aber sie reicht nicht! Eine konstruktive und verantwortlich reflektierende Philosophie sollte in der Lage sein, strenges Denken, wie es Heidegger nennt, gleichzeitig exaktes Denken sein zu lassen. Bislang kennen wir nur das exakte Denken der Mathematik und der Naturwissenschaften, das jedoch nicht streng ist, im Gegensatz zu philosophischem, eben dialektischem Denken, dass, wie Gotthard Günther es ausdrückt, zu früh von der Exaktheit dispensiert.
Das Denken der zeitgenössischen Philosophie jedoch klammert sich an die Vorgängigkeit des Dialektischen und hält dort inne. Man traut sich nicht, Zusammenhänge, Relationen in den Raum des Formalen, in den Raum des politischen und technischen Handelns zu entlassen.
Die sogenannte Unhintergehbarkeit von Sprache und Schrift wird damit zum Fetisch der Philosophie.
Selbstventilation statt Selbstreferenz. Postmoderne Sprachspiele eben.
Dr. Joachim Paul ist Vorsitzender der Piratenfraktion im Landtag Nordrhein-Westfalens.
So long, Nick H. aka Joachim Paul