Hallo zusammen,
am 05. Juli erreichte mich eine Email von Philipp Möller, dem Pressereferenten der humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung GBS über den Requesttracker der Piratenpartei NRW.
Herr Möller hat sich dankenswerterweise damit einverstanden erklärt, dass ich ihm öffentlich in meinem Blog antworte.
Er nahm in seiner Mail Bezug auf ein Telefoninterview, dass ich während des Wahlkampfs Herrn Christoph Schmidt von der katholischen Nachrichtenagentur KNA gegeben habe:
Mailtext P. Möller:
… Hallo nach NRW,
soeben lese ich folgendes Interview: Link zur KNA
“KNA: Haben Kirche und Religion überhaupt einen Wert für die Piraten?
Paul: … Viele Werte und Ideale der Aufklärung, die unsere heutige Freiheit begründen, entwickelten sich jahrhundertelang unter dem Dach der christlichen Religion.”
Nun möchte ich mich nicht in den evtl. “Shitstorm” einreihen, muss aber doch auf einen kurzen Text unserer FAQs hinweisen:
Link zu Leitbild-Seite der GBS
“7. Sind die Religionen nicht doch notwendig für die Wertebildung?
Es ist eine historisch unumstößliche Tatsache, dass die fundamentalen Rechte, die wir in modernen Rechtsstaaten genießen, überwiegend nicht den Religionen entstammen, sondern in einem erbitterten Emanzipationskampf gegen die Machtansprüche der Religionen durchgesetzt werden mussten. Viele Werte wie etwa Rationalität, individuelle Selbstbestimmung oder Demokratie, die uns heute selbstverständlich erscheinen, wurden bereits im antiken Griechenland und Rom entwickelt, verschwanden aber mit der Machtübernahme des Christentums fast ein Jahrtausend von der Bildfläche. Es bedurfte schon der Renaissance, einer Zeit, in der die antiken Schriften wieder entdeckt wurden, damit sich in Europa langsam wieder die Idee der individuellen Freiheit entfalten konnte.
Auch in der Neuzeit waren es vorwiegend religionskritische Menschen, die die Werteentwicklung (etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Idee der sozialen Gerechtigkeit, die Gewährung von Meinungs- und Pressefreiheit, die Anerkennung sexueller Selbstbestimmungsrechte etc.) voranbrachten. Die Idee der Menschenrechte beispielsweise wurde maßgeblich von dem Religionskritiker Thomas Paine forciert, während eine ganze Reihe von Päpsten dies als “unerträgliche Anmaßung” verdammte. Erst 1961 konnte sich Papst Johannes XXIII. zu einer gewundenen Anerkennung der Menschenrechte durchringen, jedoch hat der Vatikan als einziger Staat in Europa (neben Weißrussland) die Europäische Menschenrechtskonvention bis heute nicht ratifiziert. Nur ein Beispiel unter vielen, das zeigt, dass die Rede von den “christlichen Werten” einer genaueren Betrachtung nicht standhält.”
Ich hoffe also, dass das Interview möglichst selten gelesen wird.
Bedenkt man, dass (1) hierzulande ca. 37% der Bevölkerung konfessionsfrei sind und sich sogar unter Christen (v.a. den zwangskonfessionalisierten und “Papierchristen”) viele für eine Äquidistanz unserer Regierung zu religiösen und anderen esoterischen Gruppen ausspricht und (2) auch andere “Piratenpositionen” unter Konfessionsfreien großen Anklang finden, halte ich euer Potential für enorm und möchte euch daher davor warnen, mit solch sachlich falschen Aussagen ins Horn der Kirchen zu stoßen. Die angebliche Rolle des Christentums bei der Entwicklung unserer heutigen Werte ist genauso falsch wie nützlich für Kirchenfunktionäre, die die massive Subventionierung kirchlicher Einrichtungen durch den Staat aufrechterhalten wollen. (19,29 Mrd. in 2009, die NICHT aus Kirchensteuermitteln stammen und NICHT in soziale Einrichtungen fließen!)
Falls ihr Herrn Paul (oder seinem Referenten?) mal ein paar Hausaufgaben mit nach Hause geben wollt:
http://www.amazon.de/Violettbuch-Kirchenfinanzen-Staat-Kirchen-finanziert/dp/3865690394
und
http://www.amazon.de/Schatten-%C3%BCber-Europa-Untergang-antiken/dp/3865690750
Obwohl ich den Rest des Interviews sehr gut finde, muss ich euch fragen:
Hat der Mann das aus strategischen Gründen gesagt oder meint er es ernst?
Welche Antwort auf diese Frage wohl die schlimmere ist fragt sich Philipp Möller,
Pressereferent der gbs (und wegen der konsequent säkularen Positionen
entschiedener Sympathisant der Piraten) aus Berlin.
Ende Mailtext P. Möller
Ja, was für eine Steilvorlage! Natürlich habe ich es strategisch ernst meinend aus strategischen Gründen gesagt, denn praktische Politik bedeutet letztlich das Finden von Mehrheiten und Gemeinsamkeiten.
Herr Möller stößt sich ausschließlich an meiner Interviewaussage: “… Viele Werte und Ideale der Aufklärung, die unsere heutige Freiheit begründen, entwickelten sich jahrhundertelang unter dem Dach der christlichen Religion.”, und verweist auf die FAQ der Giordano-Bruno-Stiftung. Den Rest des Interviews findet er “sehr gut”.
Bin ich jetzt deswegen beruhigt? Nein, nicht wirklich. Denn die Verweise auf die üblichen Statements der Giordano-Bruno-Siftung und eben diese Statements selbst zeugen von einem Mangel an dialektischem Denken und von fehlendem Geschichtsbewusstsein, dass mir Angst und Bange werden mag, bei soviel unnötiger Polarisierung. Denn Polarisierung ist keineswegs hilfreich, sie fordert eher religiös-fundamentalistische Kräfte der Remissionierung heraus, als dass sie einer Säkularisierung dient.
Auch mag ich religiösen Eifer nicht, ganz und gar nicht. Damit meine ich das, was Richard Dawkins und religiöse Fundamentalisten gemeinsam haben.
In ganz Europa ist seit den 70er Jahren ein überdeutlicher Trend zur Säkularisierung erkennbar, hoffentlich werden weder Dawkins, noch die Giordano-Bruno-Stiftung noch sonst irgendwelche Brights diesen aufhalten.
Des Weiteren sind die Institution Kirche und “die Religion” nicht dasselbe. Vor den religiösen Gefühlen Einzelner habe ich Respekt, nicht jedoch vor den Institutionen. Allerdings ist deren gesellschaftliche und politische Realität als gegeben hinzunehmen in dem Sinne, dass Politik damit umgehen muss.
Herr Möller nimmt Religion und Kirche in seiner Argumentation aber für synonym. Das ist unzulässig und auch nicht ganz fair. Schon Kierkegaard war hier weiter mit seinem “Der Einzelne und sein Gott”.
Meinen weiteren Argumenten vorweg schicken möchte ich auch, dass ich der Ansicht bin, dass die Blutspur des Monotheismus, die im Grunde schon mit Echnaton – jawohl, mit Echnaton! [1] – im alten Ägypten ihren Anfang nahm, höchstwarscheinlich die längste und breiteste der gesamten Menschheitsgeschichte ist, da gibt es nichts zu beschönigen.
Im Übrigen sind die historisch aus dem Monotheismus folgenden großen politischen Ideologien da mit in die Rechnung hinein zu nehmen. Denn sie haben – ebenso wie die Monotheismen – ihre strukturellen Fundamente in der klassischen, altgriechischen! Identitätsontologie – das ist aber eher ein Thema für einen philosophischen Aufsatz.
Monotheismen haben wie der Name schon sagt einen Alleinvertretungsanspruch für Wahrheit. Der Humanismus – in seiner Rolle als übergeordnetes Prinzip, wie es schon von Foucault kritisiert wird – übrigens auch ….
Nach meiner Auffassung ist der Humanismus heute tot und als Prinzipienausdruck einer europäisch geprägten Hegemonie für eine Weltzivilisation nicht tauglich (-> Vilém Flusser, Michel Foucault, Gotthard Günther u.v.a.) Da hilft es auch nix, wenn man das Adjektiv ‘evolutionär’ davor setzt.
Sicher, manch einer mag die kalte Wut kriegen, bei einem Spaziergang durch das historische Rom, wo von der alten Republik fast nichts mehr übrig ist, alles überdeckt durch Basilika hier und Basilika dort.
Von daher verstehe ich auch Herrn Möllers Link-Empfehlung des unfassbar einseitigen Buchs “Schatten über Europa” von Rolf Bergmeier nicht, die Art und Weise, wie dort der frühe Islam eher gut wegkommt, ist nur ein Beispiel einer ganzen Reihe von einseitigen und verfälschenden Darstellungen, die sich keinesfalls durch historische Quellen belegen lassen. Man mag dazu auch die Rezensionen im Amazon-Buchladen aufmerksam lesen.
Dialektisches Geschichtsverständnis jedoch setzt auf eine nicht-einseitige Interpretation der Prozesse, die zu historischen Entwicklungen geführt haben.
In der Tat ist die Frage interessant, warum der Aufstieg des Christentums und der Niedergang der Antike zeitlich nahezu zusammen fielen. Der von Bergmeier angenommene Ursache-Wirkungs-Zusammenhang entspricht einer eher monokausalen und monokontexturalen Sichtweise und wird dem historischen Prozessgeschehen in keiner Weise gerecht. Zudem bringt er die Schuldfrage, eher ein klassisches Thema der Religionen!, in unzulässiger Weise in einen Kontext der historischen Verantwortlichkeit. Kann das im Sinn einer von der GBS angestrebten humanistischen Gesellschaft sein?
Wie soll es einer Bewegung mit jenseitigem Heilsversprechen gelungen sein, schuldhaft ein Weltreich zu Fall zu bringen?
Eine andere Wahrheit ist, dass Rom ideologisch und mental ‘fertig’ war, es ist langsam verfault. Und dieser Prozess begann mit dem Verlustiggehen des großen Gegners bereits in der Zeit der Römischen Republik, mit dem Fall Karthagos.
Die Geburt der Idee der Freiheit im alten Griechenland hochleben zu lassen, so wie Sie, Herr Möller, dass in ihrer FAQ Nr.7 der GBS tun, einer Freiheit der Wenigen, der 500 reichen Bürger Athens, die auf der Basis einer Sklavenwirtschaft existierten, ist auch eher eine Argumentationsstrategie, die auf Auslassung setzt, oder die Hoffnung, dass der/die Kontrahenden es nicht merken?
Historisch Neues entsteht meist aus der Berührung unterschiedlicher Kulturen, hier dem Konflikt der griechisch-römisch geprägten Antike und dort dem nordafrikanisch-vorderasiatischen Kulturkreis, dessen alte Bezeichnung ‘hamito-semitisch’ konsequenterweise aufgrund ihrer rassistischen Belastung aufgegeben wurde. Die Idee des Jenseits kollidiert mit dem körperlichen Selbstverständnis der griechisch vorgeprägten römischen Kolonialherren. Gleichwohl passte sie in das Schema der griechischen Ontologie, was der eigentliche Religionsstifter Saulus/Paulus sich geschickt zunutze zu machen wusste.
Fest steht auch, die Idee der Null – essentiell für eine als Wissenschaft betriebene und geformte Mathematik – haben die Griechen nicht entwickelt, dafür war ihr Zahlenverständnis zu körperlich. Die Null, so belegen die spärlichen historischen Quellen [2,3], entstand eher im Dreieck Griechenland – Indien – Arabien und kam von dort zu uns. Und in ihrer Folge auch die Idee der körperlosen juristischen Person, so wie sie Eingang in unser vom römischen Recht geprägtes Bürgerliches Gesetzbuch fand. Ob eine kontinuierliche bruchlose Weiterentwicklung der europäischen Antike dorthin geführt hätte, ist als Frage müßig. Obwohl ich wage zu behaupten eher nicht, denn dann hätte die kontinuierlich erfolgende Entwicklung eines anderen zur Zeit der Antike führenden Großreichs ebenfalls dorthin führen müssen, die Chinas. Hat sie aber nicht. Eine Wissenschaft im analytischen Sinn hat China nie entwickelt, sondern irgendwann übernommen, von uns.
Die Mär vom Mittelalter als dem dunklen Zeitalter basiert auf dem romantischen Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, dem heute offensichtlich noch viele anhängen. Am Ende der Antike bauten lediglich die Römer mit Stein, am Ende des Mittelalters ganz Europa. Es sind die kleineren, praktischen Techniken wie z.B. die Erfindung der Brille gewesen, die das Mittelalter ausmachen und dort eine weit über die Antike hinausgehende Verfeinerung erfuhren. Hexenverbrennungen und Verfolgungen sind im Übrigen ein Phänomen der Renaissance und der frühen Neuzeit.
An dem unauflöslichen Widerspruch des Clashes zwischen den beiden Kirchendogmen ‘die Bibel hat recht’ und ‘Aristoteles hat recht’ entzündete sich der Verstand der Prä-Wissenschaftler-Mönche des Mittelalters, die allmählich begannen, sich anstatt vor Gott über die Dinge zu beugen – sie sind die wahren Ahnen unserer modernen Naturwissenschaft. Noch Newton spricht vom Raum als dem Sensorium Gottes und in der klassischen Mechanik gibt es den Begriff der kanonischen (gott-gewollten) Transformation. Thomas von Aquin kann mit seiner Forderung, sich nicht auf die arabischen Kommentare zu verlassen, sondern die alten Griechen selbst ins Lateinische zu übersetzen, als früher Initiator der Aufklärung verstanden werden, eine eher dialektische Interpretation, die weder Benedikt XVI noch Richard Dawkins gefallen mag, dafür aber mir.
Die Renaissance – verstanden als Wiedergeburt der Antike – war eigentlich ein Witz. Wäre die Antike tatsächlich wiedergeboren, gäbe es immer noch keinen Buchdruck, keinen Albertus Magnus, keinen Abaelard, keinen William von Ockham, keinen Hugo de Groot und sein Völkerrecht, keinen Nikolaus von Kues, keine Orgel, keine Bach-Musik und keine Klassik, keinen Newton, keinen Leibniz und schon gar keine modernen Naturwissenschaften und auch nicht die Gedanken zur menschlichen Freiheit eines Schelling.
Oswald Spenglers ‘Untergang des Abendlandes’ – wenngleich umstritten – kann hier lehrreich sein im Entwickeln eines Verständnisses für historische Prozesse. Was Arnold Toynbee recht ist, kann mir billig sein. Was? Der Pirat wagt es, diesen rechtskonservativen Kerl zu erwähnen? Ja, und die Legitimation dafür hole ich mir beim linken Adorno: “Spengler hat kaum einen Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Ausflucht”.
Des Weiteren verweise ich darauf, dass es bereits vor einiger Zeit einen Briefwechsel zwischen meinem geschätzten Freund und ehemaligem akademischen Lehrer, Herrn Eberhard von Goldammer und Herrn Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung gegeben hat. Der letzte Brief von Herrn von Goldammer wurde von Herrn Schmidt-Salomon bis heute nicht beantwortet. Der Briefwechsel kann hier nachgelesen werden.
Profunde Religionskritik beginnt heute mit John Leslie Mackie – dessen Name auf der HP der Giordano-Bruno-Stiftung nicht einmal erwähnt wird – und hört mit Gotthard Günther lange nicht auf. Es steht zu befürchten, dass die GBS hier die philosophische Auseinandersetzung auf gehobenem Niveau scheut.
Wer nach der katholischen Sexualmoral lebt, entwickelt schlimmstenfalls eine ecclesiogene Sexualneurose, ein Psychiater kann da in der Regel helfen. Wer allerdings Wissenschaft – in der die Prinzipien der begrenzten Gültigkeit und das des korrigierbaren Erkenntnisfehlers regieren – zum Glauben macht, läuft Gefahr, gleich ein Fall für den Pathologen zu werden.
Wer der Vernunft Altäre baut, verrät nicht nur die Vernunft, sondern unser Konzept von Rationalität und Wissenschaft insgesamt.
In diesem Sinne,
Nick H. aka Joachim Paul
Quellennachweise
[1] Assmann, Jan; Moses der Ägypter, Frankfurt a.M. 2000
[2] Borst, Arno; Computus – Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 1990
[3] Kaplan, Robert; Die Geschichte der Null, München 2003