Ich bin sehr unsicher bei diesem Text. Zu schreiben über Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus, über Grauen, für das mir die Worte fehlen, beinhaltet mehr als jedes andere Thema immer die Gefahr, alles falsch machen zu können.
Ich möchte es dennoch versuchen, meinen persönlichen Umgang damit, damals als Schülerin, später als Lehrerin, als Tochter, als Enkelin.
Ich bin nicht mehr sicher, wie oft wir in meiner eigenen Schulzeit über die Thematik gesprochen haben. Ich erinnere mich an einen Geschichtslehrer, der die Zeit verklärend dargestellt hat. Und an den Lateinlehrer, der als Gegensatz, nicht verklärend, sondern sehr klar, über seine Zeit im Krieg erzählte. Aber woran ich mich auch erinnere: Das Thema hat mich emotional nicht ergriffen. Es war für mich weit weg. Ich habe als Schülerin nicht verstanden, was das eigentlich mit mir zu tun haben könnte.
Im Studium ist das eine Weile so geblieben. Gefühlt hatte jedes dritte Seminar irgendwie mit der Thematik Nationalsozialismus zu tun im Bereich Germanistik. Manchmal habe ich das als unnötig empfunden. Als anstrengend. Ich schäme mich dafür. Für meine Ignoranz.
Es hat in der Zeit viele Diskussionen gebraucht. Auch später noch. Mit Freund*innen, die damals politischer waren als ich. Über all die Zusammenhänge. Die Verantwortung, die wir heute und immer haben werden. Oder das, was Prof. Dr. Aly gestern bei der Gedenkfeier im Landtag NRW sagte. Die Erkenntnis, dass die Nazis in der Mitte der Gesellschaft waren. ‘Der Historiker betonte zugleich die Mitverantwortung der “allermeisten Deutschen”, die Profiteure der Enteignung von Juden gewesen seien, die angesichts der Verbrechen stillgehalten hätten und nach dem Krieg “aus tiefer Überzeugung” behauptet hätten: “Das haben wir nicht gewusst!”‘
Heute weiß ich, dass es niemals einen Schlussstrich geben darf. Dass wir uns immer erinnern müssen. Dass wir entsprechend handeln müssen. Dass wir Antifaschismus brauchen. Täglich. Überall. Aber als ich jung war, war mir das in dieser Deutlichkeit nicht klar.
Ich habe später, als ich dann Lehrerin war, viel darüber nachgedacht, wie man sich angemessen mit Schüler*innen mit der Thematik beschäftigen kann. Für mich geht es dabei darum, wann es einen betrifft. Wann Empathie entsteht. Wann etwas Emotionen auslöst. Schüler*innen haben so viele andere Themen, die sie beschäftigen. Wie geht man damit um? Ich habe nicht die eine Lösung gefunden.
Ich habe viele Wege versucht. Man analysiert Gedichte. Reden aus der Zeit. Man liest Romane. Man diskutiert. Aber im Grunde ist das nichts, was betroffen macht. Es berührt einen nicht. Man kann es zu leicht wegschieben. Vielleicht kann ich das aus meiner eigenen Zeit als Schülerin sogar verstehen. Das hat aber noch eine andere Komponente: Wenn man sich einmal ausführlicher damit beschäftigt, so dass es einen betrifft, ändert sich alles. Man kann dann nicht mehr darüber reden ohne Emotionen. Das Gefühl, mit dem Ausmaß nicht klarzukommen. Das geht vielleicht nie mehr weg. Das Gefühl, Tränen herunterschlucken zu müssen. Wenn man Bilder sieht. Oder Filme. Und dann bleibt dieser Kloß im Hals auch bei Texten. Für immer.
Das, was wir manchmal bei Menschen verurteilen, die unangemessene Bilder vom Besuch im KZ machen. Oder die fehlende Bereitschaft, das Gedenken aufrecht zu halten. Ich weiß nicht, wie viel davon auch das unsichere Gefühl ist, dass man nicht damit fertig wird, wenn man es an sich heranlässt.
Mit meiner Mutter habe ich sehr spät überhaupt erst darüber geredet. Sie war damals Kind. Mit meinen Großeltern habe ich nie darüber gesprochen. Sie sind relativ früh gestorben. Heute würde ich sie so vieles fragen wollen. Meine Oma hatte eine jüdische Freundin. Die Freundin ist im KZ gestorben. Wie viel wird darüber wohl in anderen Familien gesprochen?
Mit Schüler*innen spricht man dann auch über Widerstand. Manchmal am Beispiel der jungen Menschen, die dafür gestorben sind. Die Geschwister Scholl. Schüler*innen fragen sich dann durchaus, wie sie handeln würden. Ob sie mutig genug wären, für ihre Überzeugungen zu sterben. Schwierige Fragen. Und auch recht theoretisch. Wie viel leichter ist es, wegzusehen, nichts zu sagen? Heute. So im Alltag. Bei Rassismus. Bei Antisemitismus.
“Keiner weiß letztlich, wozu er fähig ist, keiner von uns. Woher solltest du auch wissen, was du tun würdest, um am Leben zu bleiben, bis man dich das wirklich fragt?” (Film. “Die Grauzone”)
Es gab ein Erlebnis mit Schüler*innen, was mich lange beschäftigt hat. Ein Freund hatte mir den Film “Die Grauzone”empfohlen. Ich habe den Fehler gemacht, nur kurz reingesehen zu haben vorab. Ich war unvorbereitet, als ich den Film das erste Mal am Ende einer Reihe über Nationalsozialismus mit Schüler*innen geguckt habe. Das war mit einer Klasse, zu der ich wenig emotionale Bindung hatte. Deutsch Grundkurs. Einige, die immer mal mit Papa gedroht haben, der Jurist war. Und welche, die lieber Fingernägel lackiert haben im Unterricht. Zu Beginn des Films war dann auch so Popcornstimmung. Toll, Film gucken. Ist dann nicht so langweilig wie sonst. Und im Laufe des Films änderte sich die Stimmung. Bei mir. Bei den Schüler*innen. Der Film endete mit der sechsten Stunde. Es klingelte. Die Schüler*innen hatten frei danach. Der Abspann lief. Sonst: Stille. Nichts. Kein Taschenrascheln. Paralysiert. Ich auch. Ringen um Fassung. Irgendwas sagen wollen. Nicht können. Ich hatte 45 Minuten Rückfahrt mit dem Auto. Ich habe bis Zuhause geheult. Nicht leise geweint. Sondern schluchzend und zitternd geheult.
Den Film habe ich irgendwann nochmal mit Schüler*innen geguckt. Dann allerdings besser vorbereitet. Der Klasse habe ich vorher sehr ehrlich gesagt, wie ich beim ersten Mal darauf reagiert habe. Und wir konnten dann darüber reden. Vorher und nachher. Und bei der Klasse waren die Gefühle ok untereinander. Zu weinen bei einem Film. Darüber reden zu können, was das mit einem macht.
Ich habe keine Lösung, kein Rezept als Lehrerin, keins als Mensch. Mein Gefühl sagt mir, dass man der Thematik nicht gerecht wird mit rein sachlicher Herangehensweise. Vielleicht kann man es versuchen, wenn man selber Schüler*innen gegenüber zugeben kann, dass man selber hadert, zweifelt, weint, ohnmächtig und hilflos ist.