ÖPNV fahrscheinlos? ticketlos? kostenlos? Nulltarif? Flatrate?
Erwähnt man, Piraten würden den “kostenlosen Nahverkehr” fordern, so kann man schnell erfahren, man solle bitteschön “fahrscheinlos” oder auch “umlagefinanziert” schreiben. So geschehen dem taz-Journalisten Sebastian Heiser, der zu dem Thema sogar einen längeren Text geschrieben hat – in Reaktion auf einen Tweet von Gerwald Claus-Brunner. Dabei hieß das Konzept selbst bei den Piraten anfangs “zum Nulltarif” und viele Piraten haben inzwischen erkannt, dass man die Idee anders erklären muss.
Im Wahlprogramm der NRW-Piraten von 2010 heißt es noch “Modellversuch für einen Öffentlichen Personennahverkehr zum Nulltarif” und wir in NRW hatten kein Problem mit dem Wort “kostenlos”, druckten es sogar auf unsere Plakate. Die Berliner Piraten erfanden dann für ihr Wahlprogramm 2011 den Begriff “fahrscheinlos”, um dem Vorwurf zu entgegnen, eine Finanzierung eines solchen Projekts sei nicht realistisch.
In Gesprächen mit Bekannten, Infostand-Besuchern oder auch den Passanten des ÖPNV-Aktionstags in Hannover am 12.01.2013 habe ich allerdings immer wieder die Erfahrung gesammelt, dass “fahrscheinlos” nicht verstanden wird. Viele Piraten berichten mir das Gleiche. Oft werden Karten mit RFID-Chip damit assoziiert: Nichts, was Piraten oben ins Wahlprogramm schieben würden.
In einem Gastbeitrag für das Blog Ruhrbarone vor drei Wochen habe ich absichtlich mehrere Begriffe genutzt und mich auch nicht beschwert, dass die Redaktion das griffige “Alternative kostenloser Nahverkehr?” als Überschrift gewählt hat. Denn auch “umlagefinanziert” trifft es nicht immer, weil es verschiedene Modelle gibt. Je nach Region, Stadt oder Gemeinde können unterschiedliche Finanzierungsmethoden interessant sein: Eine City-Maut für Großstädte, Kurtaxe in touristischen Gemeinden, Umlage auf die ansässigen Firmen, Gemeindeumlage bzw. eine Haushaltsabgabe a la GEZ, Finanzierung durch Parkplatzabgaben oder Öko-Abgaben. Solange “fahrscheinloser Nahverkehr” lokal realisiert wird – und das ist zur Etablierung zunächst empfehlenswert – wird es unterschiedliche Finanzierungsarten geben. Wichtig ist jeweils eine starke lokale Initiative und ein Bundesland, das die lokalen Initiativen durch entsprechende Rahmenbedingungen unterstützt. Erst bei zumindest landesweiter Einführung kommen Lösungen (z.B. via Kraftstoffabgabe) in Frage, die einheitlich benannt werden können.
Die Piratenpartei hat ein generelles “Wording-Problem”.
Oder sollte es “Begriffsfindungsschwierigkeiten” heißen?
Die Politik der Piraten krankt derzeit daran, dass die Piratenpartei ihre Themen nicht vermitteln kann. Entweder gelten die Themen als sehr speziell (“Open Access”, “Trivialpatente”, “INDECT”, “BGE”) oder man hat das Gefühl, die Piraten würden das Gewäsch der anderen bloß aufbrühen.
Dabei ist das Themenkonstrukt der Piraten sehr elegant und schlüssig: Automatisch und für Eingeweihte selbstverständlich fügen sich die Positionen der Piraten ineinander, ohne dass man vorher die Ideologie oder ein Weltbild hätte festschreiben müssen. Doch genau dort liegt das Problem: Das innere Selbstverständnis hat kein einheitliches, verständliches Vokabular, welches die Piratenpartei zur Darstellung ihrer Alleinstellungsmerkmale verwenden könnte. Stattdessen begegnet der potentielle Wähler einem Wust an Abkürzungen oder Erklärungen wie “Piraten stehen für soziale Gerechtigkeit, aber ECHTE soziale Gerechtigkeit, für ECHTE Transparenz und ECHTE Demokratie und ECHTE Zukunftsfähigkeit.” Kernkompetenz vermittelt? Sicher nicht.
Der Erfolg der Piraten im September diesen Jahres wird entscheidend davon abhängen, ob es uns Piraten gelingt, unsere Welt in griffige und dennoch nicht abgegriffene Worte zu fassen. Wir brauchen ein gemeinsames “Wording” – einfache Worte, die unsere Themen in ihrer vollen Breite und gleichzeitig mit dem Hinweis auf unsere Kompetenz transportieren.
Ganz vorne sollten nicht mehr als drei oder vier Begriffe stehen. Bisher gehörten “Bürgerrechte” und “Transparenz” dazu. Dadurch konnten wir einiges vermitteln, aber für den großen Rahmen alltäglicher Politik sind die Begriffe zu unbestimmt und nicht weitgehend genug zugleich. Der Begriff “Gemeinwohl” passt zu uns, bezeichnet aber eher die Klientel als das Handeln unserer Partei. “Teilhabe” ist derzeit ein Favorit für die erste Reihe: Teilhabe erklärt unsere Positionen zu Leistungsschutzrecht und Patentrecht genauso gut wie zur Steuer-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik. Der Begriff ist sehr umfassend, fasst dennoch unsere Standpunkte gut zusammen und grenzt sich gegen die Positionen anderer Parteien (z.B. gegen “Umverteilen”) ausreichend ab. Ideal, sofern “Teilhabe” auch von allen Menschen entsprechend verstanden wird.
Doch nicht nur für das große Ganze, auch für unsere starken Einzelpositionen benötigen wir klare, verständliche Begriffe. In unseren Konzepten zur Verkehrspolitik sticht die Maßnahme “fahrscheinlose Nahverkehr” hervor, weil sie plakativ und leicht vermittelbar ist. Der Begriff allerdings ist es nicht.
Schade, dass sich ausgerechnet ein von Piraten neu eingebrachter Begriff als untauglich erweist. “Bus und Bahn zum Nulltarif” ist wesentlich verständlicher und meiner Meinung nach weiterhin von uns verwendbar, auch wenn die Begrifflichkeit bereits einige Jahrzehnte kursiert und ursprünglich stark mit rein ökologischen Aspekten besetzt war. Gilt auch hier “Wir haben entweder keine eigenen Begriffe oder schlechte”? Griffig und vielleicht ein guter Kompromiss ist “Flatrate-ÖPNV”. Mit dieser Kurzerklärung haben wir – einige Piraten inklusive mir – meist gut vermitteln können, worum es uns geht – und Überschriftenfreundlich ist sie auch.