Unser Antrag im Plenum (02.-04. September 2015)
Aus der Vergangenheit lernen: Nordrhein-Westfalen muss sich der politischen Verantwortung als Aufnahmeland stellen!
Drucksache 16/9588
Zusammenfassung:
Seit Jahrzehnten ist Einwanderung in NRW ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft. Einwanderung hat NRW voran gebracht. Ohne die ehemaligen Migranten, die längst Bürger unseres Landes geworden sind, wären wir in jeder Hinsicht ärmer. Wir Piraten wollen, dass diese Realität endlich anerkannt wird und auch praktische Konsequenzen hat. Eine Politik, die auf Abschreckung setzt, hat in einem modernen Einwanderungsland ausgedient. Die Landesregierung muss sich dieser Herausforderung der humanen Flüchtlingsaufnahme endlich stellen. Wir fordern außerdem ein Ministerium für Flucht, Integration und Einwanderung, dass dafür sorgt, dass Flüchtlinge in Deutschland sicher, human und gleichberechtigt leben können.
Michele Marsching, Vorsitzender der Piratenfraktion im Landtag NRW:
„Die Landesregierung macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Seit 2012 fordern wir den migrationspolitischen Rettungseinsatz – doch von der Landesregierung kommen lediglich warme Worte, statt notwendige Taten:
Frau Kraft sagt: Die anderen EU-Mitgliedstaaten sollen ihre Verantwortung wahrnehmen. Wir sagen: Auch mit Verteilungsschlüssel würde NRW ähnliche Aufnahmezahlen verzeichnen.
Frau Kraft sagt: Der Bund muss seinen Verpflichtungen nachkommen.
Wir sagen: Geld steht heute schon zur Verfügung. Das Land NRW hat im ersten Halbjahr 2015 rund 2,2 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen. Frau Kraft soll dieses Geld nehmen und in eine humane Flüchtlingsaufnahme in NRW investieren. Welchen Deal man mit dem Bund macht, ist den Menschen und den Kommunen erstmal egal.
Frau Kraft sagt: Mit diesen Flüchtlingszahlen konnte niemand rechnen.
Wir sagen: Doch! Wir haben seit Jahren genug Beweise dafür, dass mehr Menschen zu uns kommen werden.“
Protokoll der Rede von Michele Marsching:
Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Mostofizadeh. – Nun spricht als nächster Redner für die Fraktion der Piraten der Fraktionsvorsitzende, Herr Marsching.
Michele Marsching (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer zu Hause und auf der Tribüne! Liebe Flüchtlinge! Refugees, welcome! Wir Piraten heißen euch willkommen in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen.
(Beifall von den PIRATEN)
Liebe Frau Ministerpräsidentin, starke Rede. Läuft bei Ihnen. Alles wird gut. Sie packen es jetzt an.
Zum Thema „klare Worte“ muss ich sagen, Herr Mostofizadeh: Das waren meiner Meinung nach eher die Worte nach vier Klaren als klare Worte.
(Beifall von den PIRATEN – Zurufe von der CDU: Oh! – Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])
Denn da, wo das Land etwas tun kann, packt es nicht an.
Ich war in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Essen. Wir sind damals mit Windeln und mit Kosmetika gekommen. Die Wachleute haben uns gefragt: „Was wollt ihr denn hier?“ und wollten uns schon wegschicken. Ich wette, wäre ich nicht Landtagsabgeordneter gewesen, wir hätten wieder gehen müssen. Dann wurde versprochen, dass alles besser wird. Wir haben geredet.
Vorgestern ist eine Mitarbeiterin zu derselben Erstaufnahmeeinrichtung in Essen gegangen. Sie hat vorher die Helfer gefragt: Was kann ich mitbringen, was ist gefragt? Es wurde gesagt: Für die Kinder kannst du etwas mitbringen. Die freuen sich immer und haben hier keine so gute Versorgung; denn das Mindeste, das die Flüchtlinge bekommen, berücksichtigt die Kinder nicht in dem Maße, wie sie es bräuchten.
Also hat sie Bonbons und Luftballons gekauft und ist zu der Erstaufnahmeeinrichtung gefahren. Sie war nicht einmal auf dem Gelände, da kamen die Sicherheitsleute und haben ihr gesagt – Zitat –: Ihr könnt hier kein halbes Schwein mit Reis abgeben, oder – das finde ich viel schlimmer, das zeigt, dass das Land am falschen Ende spart, nämlich bei privaten Sicherheitsleuten – seid Ihr hier, um die Affen im Zoo zu füttern? – Das, meine Damen und Herren, darf an einer Erstaufnahmeeinrichtung des Landes einfach nicht passieren.
(Beifall von den PIRATEN)
Bringen wir die weltweite Situation der Flüchtlinge einmal auf den Punkt: 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Sie fliehen vor Kriegen, die auch mit deutschen Waffenexporten geführt werden. Sie fliehen vor Verfolgung durch Unrechtsregime, die auch die Rückendeckung und den Schutz der deutschen Bundesregierung genießen. Sie fliehen vor Armut, die auch durch den europäischen Wirtschaftskolonialismus auf dem Balkan noch verschärft wird.
Kurzum: Wir Deutschen haben eine politische Verantwortung, und wir haben die politische Pflicht, die Folgen der humanitären Krisen zu bewältigen.
Es ist Ihre Aufgabe, Frau Ministerpräsidentin, es ist die Aufgabe der Landesregierung, politische Lösungen vorzulegen und umzusetzen. Man muss nicht die lange Zeit warten, bis das Parlament wieder zusammentritt, das kann man auch in der Sommerpause tun. Sie müssen endlich Verantwortung übernehmen.
(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft)
Von 60 Millionen Menschen auf der Flucht werden in diesem Jahr etwa 800.000 nach Deutschland kommen, und 170.000 – wir haben es schon gehört – kommen nach Nordrhein-Westfalen. Das ist im Durchschnitt weniger als 1 % der hiesigen Bevölkerung.
Immer wieder wird die überwältigende Dimension der Migrationsströme beschworen, aber die Untätigkeit der Landesregierung, der politische Unwille in den letzten drei Jahren lässt das Ganze erst zum Problem werden. Wir haben keine Flüchtlingskrise, wir haben eine politische Krise.
(Beifall von den PIRATEN)
Bis heute hat uns die Landesregierung kein geschlossenes Konzept für eine moderne Flüchtlings- und Asylpolitik vorgelegt. Sie haben allerdings tausendundeine Ausreden, warum Sie bisher untätig gewesen sind.
(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft)
Sie sagen: Die anderen EU-Staaten sollen doch bitte in die Verantwortung genommen werden. Wir sagen Ihnen: Auch mit einem Verteilschlüssel würde NRW ähnliche Aufnahmezahlen verzeichnen.
Sie sagen: Der Bund muss endlich seinen Verpflichtungen nachkommen. Wir sagen: Das Geld ist da. Im ersten Halbjahr hat Nordrhein-Westfalen 2,2 Milliarden € mehr an Steuern eingenommen. Nutzen Sie dieses Geld, und sorgen Sie für eine humane Flüchtlingsaufnahme im Land. Denn ganz ehrlich: Welchen Deal Sie mit dem Bund machen, das ist den Menschen und den Kommunen erst einmal sehr egal.
(Beifall von den PIRATEN)
Sie sagen: Mit diesen Flüchtlingszahlen konnte doch niemand rechnen. Wir sagen Ihnen: Doch; denn wir haben seit Jahren Belege dafür, dass immer mehr Menschen zu uns kommen werden. Die Belege kommen nicht von uns, sondern vom UN-Flüchtlingshilfswerk, von Amnesty International. Sie sind seit Jahren öffentlich einsehbar.
(Minister Ralf Jäger: Völliger Quatsch!)
– Herr Minister Jäger, nehmen wir einmal an, Sie wussten wirklich nichts von diesen weltweiten Migrationsströmen. Dann sind Sie nicht wie Frau Kraft im Sommerfunkloch, dann sind Sie seit vier Jahren im Dauerfunkloch, oder – diese Möglichkeit scheint mir viel wahrscheinlicher – Sie haben das Problem jahrelang ignoriert. Das halten wir für den viel, viel größeren Skandal.
(Beifall von den PIRATEN)
Dabei gab es zuhauf Belege. Schon im Herbst 2011 musste eine kommunale Massenunterkunft in der Kölner Herkulesstraße aufgemacht werden. Im September 2012 ist das Erstaufnahmesystem zum ersten Mal komplett zusammengebrochen. Aber es brauchte erst Burbach, es brauchte erst Bad Berleburg, und es brauchte erst Essen, damit im Innenministerium überhaupt etwas passiert. Ich frage mich: Konnten Sie von dieser sich zuspitzenden Situation wirklich nichts wissen? Ich sage: Doch, das konnten Sie. Und Sie sind trotzdem untätig geblieben.
Wir fordern, in dieser politischen Krise ein Ministerium für Integration, Flucht und Einwanderung einzurichten. Das kann Abhilfe schaffen.
Denn die Flüchtlinge sind hier. Sie werden hierbleiben, und es werden mehr. Die Probleme verschwinden nicht von alleine und nicht durch Aussitzen. Denn nichts zu machen, das ist Schande mit System.
(Beifall von den PIRATEN)
Seit unserem Einzug in den Landtag konfrontieren wir Sie regelmäßig mit dem Versagen in der Flüchtlingsaufnahme. Seit drei Jahren bekommen Sie von uns unterschriftsreife Anträge. Alles, wirklich alles wird seit drei Jahren von Ihnen systematisch belächelt und von der rot-grünen Regierungsmehrheit abgelehnt.
Schon im Jahr 2012 haben wir gesehen, dass NRW eine Neukonzeption bei Aufnahme und Unterbringung braucht. Das haben wir seitdem in zahlreichen Anträgen zu einer humanen, zu einer dezentralen Unterbringung gefordert. Dazu hätte es einer frühzeitigen Bestandsaufnahme bedurft. In Schleswig-Holstein hat man das gemacht. Unter anderem deshalb steht das Land heute besser da als wir.
Außerdem haben wir in den Jahren 2013, 2014 und 2015 präzise Haushaltsänderungsanträge zur Flüchtlingsaufnahme eingebracht. Jeder einzelne wurde hier im Haus abgelehnt. Herr Jäger, Frau Ministerpräsidentin, Ihre Politik der Ausreden hat drastische Folgen. Ihr programmierter Notstand zündet Flüchtlingsheime an. So sieht es aus.
(Beifall von den PIRATEN – Widerspruch von der SPD, den GRÜNEN und der Regierungsbank – Minister Johannes Remmel: Unverschämtheit!)
Das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen Nazis, die sich davor stellen und grölen.
Eins möchte ich ganz persönlich sagen: Ich nehme mir heraus, jeden Einzelnen als Paraderassisten zu bezeichnen, der Ausländer in gute und in schlechte sortiert.
(Zuruf: Unglaublich!)
Die Landesregierung hat keinerlei Vorkehrungen getroffen. Die rot-grüne Regierung hat billigend in Kauf genommen, dass unser Land und unsere Kommunen bei dem Anstieg der Flüchtlingszahlen nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen. So entsteht der Eindruck, dass die vor Krieg und vor Verfolgung flüchtenden Menschen NRW überfordern würden. So bereitet man den Boden für Ängste und Sozialneid in der Bevölkerung. So drückt man – bildlich gesehen – dem Heidenau-Nazi den Brandsatz in die Hand. Es ist einfach so.
Diese rassistischen Übergriffe gibt es auch in NRW, man kann sie nicht wegreden. Frau Ministerpräsidentin hat das in der letzten Woche zugegeben, sie hat es gesagt. Hier in NRW hat sich die Zahl der rechtsextremen Übergriffe seit dem letzten Jahr verfünffacht. Damit ist die Zahl stärker gestiegen als in Sachsen-Anhalt oder in Sachsen. Auch da werden wieder die Augen verschlossen.
Herr Minister Jäger behauptet, der Fremdenhass sei schon ein gesamtdeutsches Problem, aber in dem einen oder anderen ostdeutschen Bundesland kenne man sich mit Migration und Integration nicht so aus wie bei uns seit vielen Jahrhunderten. – Das hat er im WDR-Interview am letzten Montag geäußert.
Herr Laschet sagt, in NRW würde zumindest keiner derjenigen auf die Straße gehen, die jene beschimpfen, die helfen wollen. Dann lade ich Sie ein: Am 18. September trifft sich DÜGIDA wieder hier am Hauptbahnhof. Am 12. September treffen sich die Republikaner in Köln. Ungefähr jedes Wochenende treffen sich die Rechten in Dortmund. Am letzten Wochenende haben sie in Oberhausen vor dem Flüchtlingsheim gestanden und „Sieg Heil“ gerufen. Ich lade Sie ein. Kommen Sie zu den Gegendemonstrationen und sehen sich die Leute an, die all jene beschimpfen, die helfen wollen. Die gibt es leider auch in Nordrhein-Westfalen.
Die Ignoranz gegenüber der Dimension der Probleme in Nordrhein-Westfalen halten wir – und das wird so bleiben, solange niemand handelt – für eine Schande. Sie reichen die Verantwortung immer weiter. Die Kommunen sagen: Das Land ist in der Pflicht. Das Land sagt: Der Bund ist in der Pflicht. Der Bund sagt: Die EU muss handeln.
Auf gar keinen Fall diskutieren wir über eine Aufweichung der Standards. Auf gar keinen Fall reden wir über Taschengeldkürzungen oder über vermeintlich sichere Herkunftsländer. Es gibt eine EU-Richtlinie, es gibt die Verfassung, und das halten wir hoch. Man ändert Gesetze nicht einfach nur deswegen, weil einem die Fallzahlen gerade nicht passen.
(Beifall von den PIRATEN)
Ich möchte aber den Menschen in NRW danken, die sich engagieren. Auf jeden Fall heißen wir die Geflüchteten willkommen. Wir haben ausreichende Kapazitäten. Wir schaffen das. Deutschland kann ohne Probleme 800.000 Menschen aufnehmen. Ohne diese Freiwilligen wären die Folgen des Regierungsversagens gar nicht auszumalen. Daher von unserer Seite vielen, vielen, vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN)
Jetzt hören wir in der Unterrichtung – von Vizepräsident Uhlenberg gerade so schön als Regierungserklärung bezeichnet –, dass die Landesregierung mal wieder das Blaue vom Himmel verspricht: Alles wird gut, viele Appelle. Fast eine Viertelstunde würdigen Sie, Frau Ministerpräsidentin – Sie ist gerade nicht da; gut, egal – …
(Widerspruch bei der SPD: Doch! – [Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sitzt in den Abgeordnetenreihen der SPD-Fraktion.])
– ach, da vorne sitzen Sie, Entschuldigung, das war nicht vorwurfsvoll gemeint –, … bürgerschaftliches Engagement, aber hier im Hohen Hause sollten wir über politische Lösungen reden. Bürgerschaftliches Engagement ist super und unentbehrlich, aber das zu loben ist hier im Haus nicht genug, Frau Ministerpräsidentin. Sie können nicht darauf hoffen, dass die Zivilgesellschaft regelmäßig die rot-grüne Landesregierung rettet.
(Beifall von den PIRATEN, der CDU und der FDP)
Seit 2012 fordert die Piratenfraktion in diesem Haus einen migrationspolitischen Rettungseinsatz. Die Landesregierung macht sich unterdessen schuldig, und zwar der fortlaufenden unterlassenen Hilfeleistung. – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN)
Frank Herrmann, Flüchtlingspolitischer Sprecher der Piratenfraktion NRW:
„Das Gebot der Stunde heißt ‚Taten statt schwafeln!‘. Angesichts der vielen Krisen und Kriege in und um Europa werden in den nächsten Monaten weiter Menschen zu uns kommen. Die Landesregierung hat sich auf diese Herausforderung nicht vorbereitet. Der einzige Hoffnungsschimmer ist die enorme Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Diese Menschen müssen gefördert werden! Mit ihrer Untätigkeit und Unfähigkeit setzt die Landesregierung auch das aufs Spiel. NRW ist ein Aufnahmeland. Wir fordern, dass sich Frau Kraft der politischen Verantwortung stellt. Wir brauchen ein Ministerium für Integration, Flucht und Einwanderung, damit endlich an einer humanen, dezentralen und nachhaltigen Flüchtlingsaufnahme gearbeitet wird.“
Protokoll der Rede von Frank Herrmann:
Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin Düker. – Für die Piratenfraktion erteile ich Herrn Kollegen Herrmann das Wort.
Frank Herrmann (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Saal und zu Hause! Ganz kurz zum Thema „sichere Herkunftsstaaten“: Herr Kuper, Herr Laschet, zu Ihrem Antrag nur so viel: Wir haben einen Entschließungsantrag dazu gemacht. Ich denke, da steht alles drin. Lesen Sie sich ihn bitte durch. Ich möchte mich jetzt nicht weiter zu dem auslassen, was Sie geschrieben haben. Sichere Herkunftsstaaten gibt es nicht. Frau Düker hat gerade auf unseren Besuch im Kosovo hingewiesen. Insofern: Lesen Sie bitte unseren Antrag. Ich erwarte übrigens nach den Äußerungen von Herrn Körfges und Frau Düker auch die Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag.
(Zuruf von Hans-Willi Körfges [SPD])
Frau Düker, Herr Körfges, Ihre Reinwaschungen, die wir jetzt die ganze Zeit gehört haben, sind schwer zu ertragen.
(Beifall von den PIRATEN – Zurufe: Oh!)
Das meiste von dem, was Sie in ihrem achtseitigen Entschließungsantrag fordern und was Frau Ministerpräsidentin Kraft hier vorgetragen hat, ist gut und richtig. Aber das hätten Sie schon vor zwei Jahren niederschreiben und umsetzen müssen.
(Beifall von den PIRATEN)
Seit 2012 haben wir all das niedergeschrieben – aber unsere Anträge haben Sie alle abgelehnt. Ob Erleichterung bei der Arbeitsaufnahme, Suche nach Unterbringung, Neukonzeption der Landesaufnahme oder die Krankenkarte für Flüchtlinge – alles abgelehnt. Sie kommen erst in Bewegung, wenn es gar nicht anders geht, und das zum Schaden der Menschen, die hier Schutz und Hilfe suchen.
Die Menschen ersticken in Lkws, ertrinken im Mittelmeer oder werden auf der Flucht erschossen. Auf Kos, auf Lesbos und auf anderen Inseln warten sie auch heute noch auf Fähren, die nicht kommen. In Bahnhöfen warten sie auf Züge, die nicht fahren. Und sie warten und verhungern an den Zäunen der Festung Europa.
Ich schäme mich als Europäer, auch weil das Ganze schon so lange geht. Seit Jahren werden die Grenzen verstärkt und nicht geöffnet. Das ist die falsche Politik.
(Beifall von den PIRATEN)
Wenn die Menschen es dann auf nicht legalen Wegen – denn legale Wege gibt es ja nicht – nach Deutschland und nach Nordrhein-Westfalen geschafft haben, dann leben sie in Zelten, in verschimmelten Massenunterkünften, in Turnhallen und in Containern. Sie dürfen nicht arbeiten, sie dürfen sich ihren Wohnsitz nicht aussuchen, sie werden sozial, medizinisch und psychologisch unterversorgt. Sie werden vom deutschen Gesetzgeber behandelt wie Menschen zweiter Klasse.
Seit Jahrzehnten leben Geflüchtete so in Massenunterkünften in Deutschland. Integration war und ist nicht gewollt. Das muss sich endlich ändern.
(Beifall von den PIRATEN)
In diesem Plenarsaal wurde am 30. April dieses Jahres nach einer Bootskatastrophe mit 700 getöteten Menschen beschlossen, dass es kein „Weiter so!“ in der Flüchtlingspolitik geben darf, dass endlich Konsequenzen aus den Fluchttragödien und der großen Anzahl der Toten gezogen werden.
Aber seither ist alles leider noch schlimmer geworden, auch hier im Land. In Nordrhein-Westfalen haben wir jetzt Zeltstädte. Vor einem Jahr war die geplante Zeltstadt in Duisburg-Walsum noch ein bundesweiter Skandal. Vor genau einem Jahr, nämlich Anfang September 2014, wurde hier im Plenum über unsere Forderung im Antrag „Keine Zeltstädte in Nordrhein-Westfalen – Unterbringung von Flüchtlingen in Zelten, Schulen und Turnhallen verhindern“ diskutiert. Uns wurde vorgeworfen, dass wir schwarzmalen würden. Damals hieß es, dass unsere Vorschläge doch schon längst umgesetzt würden, dass es eine Bestandsaufnahme zur Unterbringungsmöglichkeit gebe und dass Zeltstädte natürlich keine menschenwürdige Unterbringung bieten würden.
Meine Damen und Herren, Herr Yetim, Frau Düker, Herr Minister Jäger, wo stehen wir heute? Heute ist in die Unterbringung in Zelten eine unorthodoxe Lösung. Die Landesregierung betreibt nicht nur eine Zeltstadt. Nein, in den kommenden Wochen werden es sechs Zeltstädte mit jeweils bis zu 1.000 Menschen sein.
Die erste Zeltstadt wurde dieses Wochenende in Köln eröffnet. Sie soll bis Januar stehen bleiben. Das heißt, im kalten Winter sollen sich dort 900 Männer, Frauen und Kinder in Unisex-Containern duschen und in flattrigen Zelten ihre Tage verbringen.
(Minister Ralf Jäger: Flattrige Zelte?)
Ich kann nur hoffen, dass wir in Nordrhein-Westfalen keine Bilder wie aus Dresden, Hamburg oder Wetzlar produzieren. Dort haben Menschen mit Hungerstreik gegen ihre Unterbringung protestiert. Die Presse schreibt dort, dass in diesen Zeltstädten eine humanitäre Katastrophe stattfindet – und das mitten in Deutschland.
(Michele Marsching [PIRATEN]: Traurig!)
Nach der ersten Ankündigung der Landesregierung, dass sie Zelte baue, haben direkt diverse Kommunen nachgezogen. Ich habe es genau hier schon einmal gesagt: Wenn das Land kein Vorbild ist, machen es die Kommunen garantiert nicht besser. – Und genau so ist es passiert. So sind nun Zeltstädte für die Unterbringung von Flüchtlingen fast zu einem Standard geworden. Was für eine Schande!
(Beifall von den PIRATEN)
Ich war schon in sehr, sehr vielen schlechten Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen. Liebe Landesregierung, eine Zeltstadt mag in den Ländern rund um Syrien das einzige Mittel sein, aber eine Zeltstadt für ein reiches Aufnahmeland wie Deutschland ist wirklich beschämend.
Sie, die Landesregierung, Herr Minister Jäger, tragen für diese Zustände die Verantwortung. Es ist Ihr fundamentales Organisationsversagen, Ihre mangelnde Vorbereitung. Sie haben auf diesem unsäglichen Verantwortungsverschiebebahnhof zwischen Kommunen, Land, Bund und Europa immer ganz vorne mitgespielt. Sie wurden seit 2012 diverse Male vorgewarnt, aber Sie und Ihr Ministerium blieben bis zur Schande von Burbach untätig, und diese weltweit bemerkte Schande hat immer noch nichts wirklich nachhaltig verändert.
„Keine Provisorien mehr, feste Bauten ab Oktober.“ Das hat Ministerpräsident Reiner Haseloff gestern mitgeteilt. Solche klaren Worte hätte ich von Ihnen erwartet. Aber da kommt gar nichts, und das ist traurig.
Dass sich nun auch die „Elefanten“ im Bund – Sigmar Gabriel und inzwischen auch die Kanzlerin – anscheinend endlich der gesellschaftlichen und menschlichen Herausforderung stellen wollen, war überfällig. Taten sehe ich allerdings nicht, und wenn doch, kommt das jetzt viel zu spät. Es ist für mich absolut unverständlich, warum die Verantwortlichen erst reagieren, wenn es schon zur humanitären Katastrophe gekommen ist, wenn die Problemlösung zigmal mehr kostet, wenn der Aufwand tausendmal mehr Kraft fordert.
Der einzige Hoffnungsschimmer ist die enorme Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, der Menschen hier im Land. Und diese setzen Sie mit Ihrer Untätigkeit und Unfähigkeit aufs Spiel.
Mit unserem heutigen Antrag, der ein für alle Mal klarstellen will, dass Deutschland ein Aufnahmeland ist, fordern wir, dass in Nordrhein-Westfalen endlich Konzepte für Bürgerengagement eingeführt werden. Die Hilfsbereitschaft muss koordiniert werden. Das passiert für die Landesaufnahmen aber fast gar nicht. Es braucht mehr Struktur und mehr Koordination. Einzelinitiativen wie die der Bezirksregierung Köln müssen gestärkt werden. Hier wird zurzeit die Hilfsbereitschaft der Menschen für die Zeltstadt Köln via Twitter koordiniert, und das funktioniert sehr gut; das ist ein hervorragendes Beispiel.
Eine weitere Forderung bzw. ein Vorschlag aus unserem Antrag ist die Schaffung eines Ministeriums für Integration, Flucht und Einwanderung. Wir haben das schon mehrfach gefordert und fänden die Probleme dort auf jeden Fall besser angesiedelt als beim Innenministerium. Denn wir müssen uns den Menschen zuwenden und sie nicht abwehren.
(Minister Ralf Jäger: Ich finde das schon in Ordnung!)
Zukünftig müssen Europa, Deutschland, das Land Nordrhein-Westfalen und die Kommunen Geld und Ressourcen in die Integration und in Strukturmaßnahmen wie den Wohnungsbau stecken, statt Energie in Abwehrmaßnahmen zu verschwenden.
Wie der Migrationsforscher François Gemenne in einem Interview im „stern“ sagte, haben Abwehrmaßnahmen überhaupt keinen Einfluss auf Migrationsströme. Das Einzige, was sie beeinflussen, sind das Geschäft und die Gewinnmargen der Schlepper. Je restriktiver die Abwehrmaßnahmen sind, desto höher sind die Gewinne der Schlepper. Das ist die Realität, und deshalb brauchen wir die legale Zuwanderung.
(Beifall von den PIRATEN)
Wir brauchen ein Miteinander und kein Gegeneinander. Denn nur ein Miteinander macht uns, die Gesellschaft, stark. Wir Piraten werden unsere ganze Kraft für eine Gesellschaft von gegenseitiger Hilfe und Respekt einsetzen.
Refugees Welcome!
(Beifall von den PIRATEN)
Abstimmungsergebnis:
Der Antrag wurde nach Beratung einstimmig an den Innenausschuss – federführend -, an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie an den Integrationsausschuss überwiesen; die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen.