Mittwoch, 10. Juli 2013
TOP 12. 60 Jahre Bundesvertriebenengesetz – 50 Jahre Gerhart-Hauptmann-Haus Erinnern an die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation
Block I
Unsere Abstimmungsempfehlung: Zustimmung zur Ausschussüberweisung
Audiomitschnitt der Rede von Joachim Paul
Wortprotokoll zur Rede von Joachim Paul:
Vielen Dank, Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Herr Jostmeier, damit Sie mich wirklich nicht falsch verstehen, möchte ich Folgendes vorwegschicken: Vor Ihnen steht ein Beute-Rheinländer, ein ethnischer Mix aus Ober- und Niederschlesien, dessen Eltern – der Vater von 1909 und die Mutter von 1914 – das volle Programm mitgemacht haben: Weltkrieg I in der Kindheit und Weltkrieg II als Beteiligte, er als Unteroffizier bei der Artillerie im Afrikakorps und anschließend als amerikanischer und französischer Kriegsgefangener, sie als Krankenschwester in einem Kriegslazarett, beide als Heimatvertriebene, die sich nach dem Krieg in Köln kennengelernt haben. Köln hat sehr viele Schlesier aufgenommen.
Weiteres finden Sie auch im Grußwort unserer Fraktion zum Jubiläum des Gerhart-Hauptmann-Hauses.
Vor 60 Jahren wurde das Bundesvertriebenengesetz verabschiedet. Nachdem es in beiden Teilen Deutschlands gelungen ist, Vertriebene und Flüchtlinge erfolgreich zu integrieren, ist es aber auch an der Zeit, das abzuwickeln und weltweite Solidarität mit Flüchtlingen und Heimatvertriebenen zu praktizieren. Wer es ernst mit der Universalität der Menschenrechte meint, muss sich von der Privilegierung deutschstämmiger Zuwanderer verabschieden. Heute ist Solidarität mit Vertriebenen und Flüchtlingen weltweit angesagt.
(Beifall von den PIRATEN)
Um in diesem Zusammenhang nur auf ein Detail einzugehen: Das Bundesvertriebenengesetz privilegiert Vertriebene deutscher Abstammung gegenüber anderen Einwanderern. Es kann unserer Ansicht nach nicht angehen, dass in Sachen Einbürgerung und Anerkennung von Berufsqualifikationen russische Spätaussiedler von Gesetzes wegen gegenüber Einwanderern aus demselben Land bevorzugt werden. Gleiches gilt übrigens auch bei den Rentenansprüchen. Diese diskriminierende Unterscheidung läuft unserem Verständnis einer offenen Einwanderungspolitik zuwider.
Mit der jüngst verabschiedeten Änderung des Vertriebenengesetzes will die Bundesregierung immerhin den Nachzug von Familienangehörigen von Spätaussiedlern mit Hilfe einer Härtefallregelung erleichtern. Das wurde auch nötig, weil die zuvor eingeführten Sprachvoraussetzungen viele Familienzusammenführungen schlicht verhindert haben. Doch von teils jahrelanger Trennung sind nicht nur Aussiedlerfamilien betroffen, ebenso müssen die Regelungen für alle anderen Zuwanderer gelockert werden. Aus unserer Sicht bedarf es dafür zwingend der Aufhebung des Sprachnachweises für Zuwanderer. Deutsch lernt man am besten in Deutschland.
Denn wir Piraten unterscheiden nicht zwischen Deutschstämmigen und Nichtdeutschstämmigen. Uns geht es allein um Menschen, die aus den verschiedensten Gründen bei uns leben wollen.
(Beifall von den PIRATEN)
Wir wollen keine Ungleichbehandlungen aufgrund der Herkunft, sondern eine humane und liberale Einwanderungspolitik, die den reellen Lebensumständen der Menschen Rechnung trägt. Hier – und das sage ich ganz ohne Unterton – haben wir ein anderes Verständnis von Herkunftsstaatsangehörigkeit und der Ausrichtung eines modernen Einwanderungssystems als die CDU und mittlerweile auch Teile der FDP.
Es ist daher höchste Zeit, endlich die Integration des Bundesvertriebenengesetzes in das Aufenthaltsgesetz auf den Weg zu bringen und das alte Gesetz damit aufzuheben, im positiven Sinne.
Eine Bemerkung, liebe CDU, kann ich Ihnen leider auch nicht ersparen. Während Ihr Innenminister Friedrich auf dem Rücken der Roma aus Südosteuropa politischen Wahlkampfaktionismus betreibt, fällt es mir schwer, bei dem im Antrag geforderten Eintreten für die Belange der Vertriebenen nicht gleichzeitig besondere Sensibilität gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen wie den Roma einzufordern.
(Beifall von den PIRATEN)
Ebenso muss Schluss sein mit staatlichem Sponsoring für geschichtsrevisionistische Organisationen und Initiativen. Wer es wirklich mit dem europäischen Einigungsprozess ernst meint, muss auch hier den Vorrang auswärtiger Kulturpolitik sehen. Das Erinnern an Unrecht, das Menschen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg widerfahren ist, darf nicht dazu führen, historische Verantwortlichkeiten zu verwischen und die Schuld Nazideutschlands am Weltkrieg und seinen Folgen zu relativieren.
(Zuruf von Dr. Joachim Stamp [FDP] – Zuruf von der CDU: Das stimmt doch gar nicht!)
Vor allem den Vertretern des Parteichristentums sei ein Blick nach Lampedusa und die Lektüre der Rede von Papst Franziskus empfohlen. Seine Botschaft: Verantwortung für das menschliche Drama der Migration tragen nicht nur die Politik oder die sozioökonomische Weltlage. Verantwortlich für die vielen Toten sind wir alle. Und diese Verantwortung können wir nicht weiter ignorieren. Die Anästhesie der Herzen, wie er die Gleichgültigkeit der Wohlstandsgesellschaft anprangerte, hindere uns Mitgefühl für Menschen in Not zu empfinden, weil jeder nur seinen Wohlstand, die bedeutungslose Seifenblase, in der wir alle lebten, verteidige.
Der vorliegende Antrag der CDU steht nach unserer Auffassung für eine ethnozentrische und deutschtümelnde Politik, die eigentlich schon längst aus der Zeit gefallen ist, und den Verdacht nährt, in Zeiten asymmetrischer Wählermobilisierung eine politisch vorgestrig orientierte Wählerklientel zu bedienen.
(Werner Jostmeier [CDU]: Jetzt liegen Sie aber völlig daneben!)
Wer wirklich Wert auf ethnische Zusammenhänge legt, dem sei gesagt, dass jüngste paläontologische Forschungen ergeben haben, dass wir Europäer noch vor 6.000 bis 8.000 Jahren dunkelhäutig waren. Wir sind nur mit der Zeit etwas blass geworden. Im Grunde sind wir alle Afrikaner. – Wir stimmen der Überweisung an den Ausschuss zu. – Danke.
(Beifall von den PIRATEN)
Vizepräsident Daniel Düngel:
Herr Dr. Paul, wenn Sie bitte noch kurz zurückkommen. – Das ist nett. Der Kollege Dr. Stamp hat eine Kurzintervention angemeldet und hat dafür jetzt 90 Sekunden Zeit.
Dr. Joachim Stamp
(FDP): Herr Präsident! Herr Kollege Paul, ich muss sagen, dass ich es unredlich finde,
(Beifall von der FDP und der CDU)
was Sie dem Kollegen Jostmeier unterstellen. Ich habe in meiner Rede explizit darauf hingewiesen, dass mir die Stoßrichtung auch nicht ganz gefällt und dass wir bei der Beratung im Ausschuss die Dinge anders verabredet haben möchten. Aber dass Sie dem Kollegen Jostmeier eine Nähe zur Rechtsradikalität unterstellen, was Sie gerade mit den Wählergruppen angedeutet haben, gehört hier nicht hin. Das gibt dieser Antrag nicht her. Deswegen möchte ich ganz bewusst aus einer Partei des Wettbewerbers zur CDU ihn hier in Schutz nehmen. Das ist wirklich nicht in Ordnung.
(Beifall von der FDP und der CDU)
Dr. Joachim Paul
(PIRATEN): Herr Dr. Stamp, vielen Dank für Ihren Einwand. Sollte das bei Ihnen und bei Herrn Jostmeier so angekommen sein, seien Sie versichert: Es ist nicht so gemeint. Aber wir sind momentan ein wenig erregt über die Einlassungen Ihres Innenministers Friedrich. – Vielen Dank.