Mittwoch, 24. Juni 2015
Top 6. Überwachungsgesamtrechnung vorlegen: Transparenz über Situation der Freiheiten in unserer Gesellschaft schaffen!
Antrag der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/8976
Unser Redner: Frank Herrmann
Abstimmungsempfehlung: Zustimmung zur Ausschussüberweisung
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Protokoll der Rede von Frank Herrmann
Frank Herrmann (PIRATEN): Ganz herzlichen Dank. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Saal und zu Hause! Am vergangenen Samstag bei der Pressekonferenz nach dem Parteikonvent der SPD hat Sigmar Gabriel gesagt, dass es in der Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung seit Jahren keine neuen Argumente gibt. Wahrscheinlich meinte er, was die Gegner einer Vorratsdatenspeicherung schon immer gesagt haben, dass für ein Gefühl der Sicherheit die Überwachung der gesamten Bevölkerung nicht akzeptabel ist, und dass die Befürworter sagen: Wir machen es trotzdem.
Wenn er das aber tatsächlich so meinte, dass es keine neuen Argumente gibt, ist festzustellen, dass dann ja wohl auch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 die Vorratsdatenspeicherung auf Basis der alten, bestehenden Argumente für verfassungswidrig erklärt hat. Auch der Europäische Gerichtshof hat im letzten Jahr auf Basis eben dieser Argumente die EU-Richtlinie für nichtig weil nicht mit der Grundrechtscharta vereinbar erklärt.
Wie vermessen ist dann eigentlich der Parteivorsitzende, wenn er sagt: „Wir machen es trotzdem“? Immerhin 40 % der anwesenden SPD-Mitglieder wollten dem nicht folgen; aber eine knappe Mehrheit unterstützte den Vorsitzenden und seine eigentümliche Interpretation der Rechtsprechung zu deutschen und europäischen Grund- und Bürgerrechten.
Was ist das für eine Partei, die Willy Brandt als ihren Ehrenvorsitzenden hat? Das ist schon bemerkenswert. Willy Brandt hat 1987 nämlich gesagt: Deutsche Sozialdemokraten dürfen Kränkungen der Freiheit nie und nimmer hinnehmen. Im Zweifel für die Freiheit!
(Beifall von den PIRATEN und der FDP)
Im Zweifel für die Freiheit, ja. Und genau deswegen darf es keine Vorratsdatenspeicherung geben.
Aber natürlich gibt es auch neue Argumente gegen die Vorratsdatenspeicherung. Seit der letzten Debatte gab es zahlreiche Studien und Untersuchungen, zur Aufklärungsquote und zum Nutzen bei der Strafverfolgung zum Beispiel. Die Ergebnisse: Vorratsdatenspeicherung ist nicht notwendig, nicht verhältnismäßig.
Noch etwas anderes ist wichtig. In den letzten zehn Jahren hat sich das Telefon zum Smartphone entwickelt, zum ständigen Begleiter beinahe jedes Menschen. Das heißt auch, dass die Aufzeichnung der Kontakte und Verbindungsdaten dieser Smartphones ein ungleich schwerwiegenderer Eingriff in die Lebens- und Privatsphäre der Menschen ist.
Durch die Digitalisierung vieler anderer Abläufe in unserem Arbeits- und Lebensumfeld fallen viele weitere persönliche und nicht persönliche Daten an. Die Vorratsdatenspeicherung existiert somit nicht im luftleeren Raum, sondern tritt in Verbindung mit anderen Datensammlungen.
Das hat das Bundesverfassungsgericht schon vorausgesehen, als es das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2010 gekippt hat. Denn im Urteil hat es in der Randnummer 208 eine klare Pflicht für den Gesetzgeber formuliert: Staatliche Datensammlungen sind in Grenzen zu halten. Staatliche Datensammlungen müssen eine Ausnahme sein und dürfen nicht die Regel darstellen. Schon bei der Planung neuer Datensammlungen muss der Gesetzgeber eine Überwachungsgesamtrechnung, eine Gesamtschau der bestehenden Instrumente, vornehmen: Wo speichert der Staat Daten der Bürgerinnen und Bürger? In welchem Ausmaß? Für wie lange? Wer kontrolliert wie häufig, dass die Datensammler richtig speichern, verarbeiten und löschen?
Das gilt eben nicht für das einzelne Gesetz bzw. die einzelne Maßnahme, sondern im Kontext mit anderen bestehenden Gesetzen. Das ist es, was heute notwendig ist. Bislang ist keine Regierung, weder die Bundesregierung noch die nordrhein-westfälische Landesregierung, dieser Pflicht nachgekommen. Eine Überwachungsgesamtrechnung, wie die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Gesamtübersicht an Datensammelmaßnahmen auch genannt wird, hat es noch nicht gegeben. Diese Übersicht brauchen wir aber, und zwar auch im Hinblick auf die weitere technische Entwicklung, auch hier in Nordrhein-Westfalen, zum Beispiel im Hinblick auf die Digitalisierung der Polizeiarbeit.
Freiheit ist der Normalzustand, und jede einzelne Maßnahme, die die Freiheit einschränkt, muss sorgfältig geprüft und bewertet werden. Dann muss die vorgeschlagene Maßnahme im Kontext aller Maßnahmen betrachtet werden. Genau hier setzt unser Antrag an.
Lassen Sie uns gemeinsam Transparenz über die Datensammlungen auf EU-, bundes- und landespolitischer Ebene herstellen. Wir Piraten denken zwar schon seit Langem, das Maß ist voll, aber unsere und Ihre Bewertungen können wir auf Grundlage einer umfassenden Auswertung der bestehenden Überwachungs- und Datensammelinstrumente gerne zusammenführen. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Danke.
(Beifall von den PIRATEN)