Mittwoch, 4. Juni 2014
Top 2. Unterrichtung durch die Landesregierung
Aktionsplan der Landesregierung: „Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv“
Vorlage 16/679
Unser Redner: Stefan Fricke
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Protokoll der Rede von Stefan Fricke
Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Kollegin Grochowiak-Schmieding. Nun spricht für die Piratenfraktion Herr Kollege Fricke.
Stefan Fricke (PIRATEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz besonders liebe Bürgerinnen und Bürger egal ob mit oder ohne Behinderung! Heute geht es um den vor knapp zwei Jahren beschlossenen Inklusionsplan der Landesregierung. Sie fragen sich nun vielleicht, warum ausgerechnet ich mich mit diesem Thema beschäftige und nicht ein im Fachbereich Soziales aktiver Kollege. Sollte das zutreffen, frage ich zurück: Wer, glauben Sie, könnte besser für dieses Thema geeignet sein als ein Mensch, der nicht nur selbst betroffen, sondern auch in den legislativen Prozess miteingebunden ist? Tatsächlich war es mir ein großes Anliegen, mich intensiv mit diesem Thema zu beschäftigen und aus dieser Doppelrolle heraus dazu Stellung zu nehmen. Sonst werden die Betroffenen ja eher selten gefragt.
Die Landesregierung hat es nun nach „nur“ 23 Monaten tatsächlich geschafft, den neuen, im Juli 2012 beschlossenen Inklusionsplan vorzustellen. Ich vermute mal, dass sie sich einfach schämt und deshalb mit der Vorstellung dieses Werks so zögerlich war.
(Beifall von den PIRATEN) Natürlich war vor über einem Jahr, als der erste Termin überraschend abgesagt wurde, die Holzaffäre von enormer Bedeutung. Es mussten schließlich die besten Bretter herausgesucht werden. Fragen Sie mich aber um Himmels willen nicht nach deren Verwendungszweck. Das war ein willkommener Anlass, die Inklusion ins Tagesgeschäft zu inkludieren. Dumm nur, dass in der vorletzten Plenarrunde ursprünglich die sogenannten Kompetenzzentren wie Kaninchen aus dem Zylinder auf die Tagesordnung hüpften; denn so hatte ich Gelegenheit, die regierende Koalition an ihr Versäumnis zu erinnern. Leise und verstohlen wurde die Vorstellung dieses Werkes dann wieder auf die Tagesordnung gesetzt und der Termin sogar auf den ersten Plenartag gelegt. „Honi soit qui mal y pense“: Es wäre wirklich nicht schön gewesen, wenn die Parlamentarier genügend Zeit gehabt hätten, sich mit diesem vergessenen Text auseinanderzusetzen.
23 Monate! In all dieser vergangenen Zeit wäre eine Förderung der Inklusion vielleicht sogar in Kompetenzzentren nicht nur möglich, sondern sogar sehr wünschenswert gewesen. Aber da ist dieser wunderschöne Inklusionsplan. Korrekt müsste man sagen: Dieses wunderschöne Inklusionsmärchen ist leider über seine eigenen Füße oder besser gesagt Lücken gestolpert. Dabei kann man noch nicht einmal von „Lücken“ reden, denn dazu müsste ja zunächst einmal Substanz vorhanden sein. Der Plan folgt spurgetreu seinen eigenen Vorgaben. Das ist ein Paradoxon, denn ein Plan sollte doch etwas vorgeben. Dieser Plan ist aber quasi eine verfilmte Tragödie seines eigenen Skripts. Er gibt nichts vor, sondern er beinhaltet nur eine schlichte Zusammenfassung von Bestehendem mit neuem Etikett.
(Beifall von den PIRATEN)
„Etikettenschwindel“ nennt man so etwas wohl im Verbraucherschutz oder wenn man es schönfärben will „Umetikettierung“!
(Beifall von den PIRATEN)
Ich habe lange überlegt, womit ich anfangen soll: mit einer Aufzählung dessen, was in knapp zwei Jahren seit der Erstellung dieses Märchenbuchs alles hätte getan werden können, aber nicht getan worden ist? Oder damit, woran sich unsere Landesregierung tatsächlich versucht hat? Ja, ja, meine Damen und Herren, so etwas gibt es tatsächlich. Aber leider hat die Landesregierung dermaßen danebengelangt, dass es ihr widerstrebt, diesen Plan vorzustellen was ich gut verstehen kann. Vielleicht sollte man tatsächlich mal am Anfang beginnen: den Bedürfnissen der Betroffenen. Hat denn irgendjemand mal diese Menschen gefragt, was sie für eine funktionierende Inklusion brauchen, was sie von einer funktionierenden Inklusion erwarten? Ich spreche hier von Menschen, nicht von Strukturen, meine Damen und Herren. Es sind Menschen, die mit ihrer Behinderung leben und zurechtkommen müssen.
Nehmen wir als Beispiel mal unser Hohes Haus. Das ist nicht nur nach Vorgaben und Konstruktion wirklich schon sehr weit so weit, dass man es durchaus als behindertenfreundlich bezeichnen kann; behindertengerecht ist es jedoch noch lange nicht. Wie soll sich zum Beispiel ein blinder Mensch in diesem Bau zurechtfinden? Würden Blinde jemals ohne Hilfspersonal hierher eingeladen, ohne fremde Hilfe, nur mit ihrem Taststock oder Spürhund, auf eine Reise durch dieses Gebäude geschickt? Es gibt hier im Haus in der Telefonzentrale einem schon seit Jahrzehnten klassischen Arbeitsplatz für Blinde eine blinde Mitarbeiterin, die auch ihren Führhund mitbringen darf. Aber auch das ist kein Musterbeispiel für Inklusion. Wurde sie jemals um ihre Meinung zu eventuellen Verbesserungen gefragt?
Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass der Antrag unserer Fraktion an den Ältestenrat des Hauses, als einen ersten Schritt in Richtung Behindertengerechtigkeit die Büros in Braille zu kennzeichnen, abgelehnt wurde. Ist es das, was die Landesregierung unter „gelebter Inklusion“ versteht? Wie gesagt, unser Haus ist aus Behindertensicht durchaus als fortschrittlich zu betrachten. Wie mag es also erst anderswo aussehen?
Inklusion ist mehr als nur der Bau von Rampen in öffentlichen Gebäuden oder das Errichten oder Aufblähen von Strukturen. Inklusion heißt und sollte es auch sein: das Miteinander, das gemeinsame Leben von Menschen mit und ohne Behinderung aller Art. Behinderte Menschen, das sind Rollstuhlfahrer, Gehörlose, Blinde, sensoral, mental und psychisch teilweise multipel beeinträchtigte Menschen, die mit den „Normalen“ „normalen“ Umgang haben sollten. „Normaler“ Umgang fängt im Kindesalter an. Theoretisch! Praktisch sieht es aber so aus, dass bei unserer Landesregierung und in deren Strukturen behinderte Menschen im Kindesalter nicht existieren. Denn der famose Inklusionsplan sieht sie erst gar nicht vor. Pech für sie!
Weiter geht es mit der schulischen Inklusion. Diesem Aspekt widme ich nachher noch detailliertere Ausführungen. Fangen wir mit den einfachen Dingen an. Inklusion in NRW in den Bereichen Bauen und Verkehr: Diese Inklusion findet nicht statt. Das ist eine Nullnummer, egal ob es sich um den Punkt 4.1.1.2 Landesbauordnung handelt oder den Punkt IV.1.1.8 Wohn- und Teilhabegesetz NRW oder den Punkt IV.4.6 Barrierefreier Wohnraum. Sie alle sind im Inklusionsplan aufgeführt. Teilweise wird schon seit Jahrzehnten darüber geredet. Das ist es dann aber auch schon. Zu manchen Themenbereichen muss man wirklich nicht mehr viele Worte verlieren. Das immerhin ist erfreulich.
Zur Inklusion im Bereich des gemeinsamen Lebens gehört auch der Sport. „Im Westen nichts Neues“ das ist fast so alt wie der Roman von Erich Maria Remarque. Viele schöne Absichtserklärungen, aber noch nicht einmal eine Zeile, die man auch nur ansatzweise als Ergebnis interpretieren könnte. Ach, nein beinahe hätte ich etwas vergessen: Am 24. Oktober 2012 fand laut Inklusionsplan ein Fachkongress statt, an dessen Erkenntnissen auch ich durchaus interessiert gewesen wäre, wozu ich aber leider auch nichts gefunden habe. Hat der Behindertensport in NRW in den letzten Jahren in irgendeiner Form eine zusätzliche, nicht durch den Inklusionsplan initiierte Förderung erfahren? Mir ist nichts dazu bekannt.
Kommen wir nun zur schulischen Inklusion. Hier und nur hier sind tatsächlich Aktivitäten unserer Landesregierung feststellbar:
Im Oktober vergangenen Jahres wurde das Inklusionsgesetz beschlossen. Meine Kollegin Monika Pieper hat sich zu diesem Bereich ebenso kritisch wie konstruktiv geäußert leider jedoch ohne Erfolg. Das Ergebnis ist ein komplettes Fail mit verheerenden Auswirkungen für die Betroffenen.
(Beifall von den PIRATEN, Ursula Doppmeier [CDU] und Walter Kern [CDU])
Aber lassen Sie uns auch hier bei den Bedürfnissen der Betroffenen beginnen. Wurden die Eltern behinderter Kinder jemals gefragt, ob sie ihren Nachwuchs überhaupt in Regelschulen schicken wollen? Nicht dass ich wüsste. Teilweise wollen sie das sicher. Dieser Tage ging ein Fall aus Baden-Württemberg durch die Presse, in dem die Eltern ihr behindertes Kind auf dem Rechtsweg in eine Regelschule einklagen wollen. Ob das immer der richtige Weg ist, bleibt dahingestellt. Sozialdemokraten wie Grüne frönen hier in NRW ungeniert ihrer altmissionarischen Nanny-Tradition: Wir wissen, was für dich, Bürger, gut ist! Da es nicht so direkt sicht- und spürbar ist wie ein Veggie-Day, gibt es hier auch keinen Aufschrei.
Wie viele Eltern gibt es denn, die entsetzt darüber sind, dass Förderschulen, die ihrem Namen Ehre machen und den behinderten Nachwuchs bestmöglich auf das Leben vorbereiten, geschlossen werden, da ja alles inkludiert wird? Und werden behinderte Kinder heute weniger gehänselt als in X Jahrzehnten? Nicht dass ich wüsste. Aber das soziale Klima wird insgesamt rauer, und daher ist eine gesunde Abhärtung in jungen Jahren sicherlich sinnvoll. Entschuldigen Sie bitte meinen unechten Zynismus und die allerdings nur leicht überzeichnete Darstellung, aber diese Form sozialer Kälte unter einer Landesregierung, die „sozial“ in ihrem Namen trägt, ist für mich unerträglich.
(Beifall von den PIRATEN)
Nach dem neuen Gesetzeswerk, welches spätestens im kommenden Schuljahr Anwendung finden soll, ist die Regelschule auch für diejenigen Kinder, die eine sonderpädagogische Betreuung brauchen, der Regelförderort. Dort sollen sie an eigene Bildungsabschlüsse herangeführt werden, wenn sie die Lernziele der regulären Unterrichtspläne nicht erreichen. Neu ist an dieser Regelung nur, dass das nunmehr in der Regelschule geschieht. Die Regelschulen sind jedoch in keiner Weise, und zwar weder personell noch finanziell, auf diese Aufgabe vorbereitet. Dies zeigt plakativ ein aktueller Fall des Verwaltungsgerichts Düsseldorf mit dem Aktenzeichen 19 K 469/14, der es bis in den „Spiegel“ geschafft hat. Ob dies ein Einzelfall bleibt, wird sich noch zeigen. Für die betroffenen Eltern ist es sicherlich kein Trost, dass die Landesregierung für eine verkorkste Gesetzgebung in Amtshaftung genommen werden kann; ich zumindest bezweifle das.
Verstehen wir uns richtig: Inklusion ist dringend nötig; viel zu lange wurden Menschen wie ich ausgegrenzt. Inklusion ist aber kein Spielplatz für Experimente auf Kosten der Betroffenen. Die haben nämlich schon genug zu kämpfen. Ich möchte nun noch auf die Strukturen zu sprechen kommen. Wofür sollen Strukturen denn gut sein, wenn sie den Bedürfnissen der Betroffenen nicht gerecht werden? Das, was die Regierung bisher vorgelegt hat, ist lediglich eine riesige Montgolfiere, eine Aufblähung von bürokratischen Strukturen ohne jeglichen effektiven und praktischen Nutzen. Wollte man behinderte Menschen tatsächlich in das Alltagsleben einbinden und inkludieren, ginge das ganz einfach: Dazu müssten alle Entscheidungsträger lediglich einmal vier Wochen mit einem der Betroffenen zusammenleben. Das könnte man wunderbar in den anstehenden Parlamentssommerferien arrangieren. Dann würden Sie begriffen haben, wo die tatsächlichen Probleme stecken. Das würde sicherlich auch im Bereich der Inklusion sehr schnell einiges bewegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bürgerinnen und Bürger, ich bin am Ende meiner Ausführungen angekommen und sage vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN und der CDU)
Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Fricke. Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Schneider.