Antrag im Plenum 09.06.2016, TOP 5, ca. 13.05 Uhr
Mülheimer Erklärung
Am 25. Mai 2016 unterzeichneten die Landesvorsitzenden NRW des Verbandes Bildung und Erziehung, des Verbandes Sonderpädagogik, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und des Philologen-Verbandes die sogenannte Mülheimer Erklärung. Diese Erklärung unterstreicht, dass nun endlich gehandelt werden muss.
I. Sachverhalt
Die aktuelle bildungspolitische Entwicklung fokussiert in hohem Maße die zahlenmäßige Erhöhung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Unterricht der allgemeinen und berufsbildenden Schulen. Der Blick auf eine rein quantitative Erhöhung der Inklusionsquote greift zu kurz und wird den konkreten Erfordernissen nicht gerecht. Die Schülerzahlen in Förderschulen nehmen nicht im gleichen Ausmaß ab, wie die Inklusionsquote steigt. Die Schulämter verzeichnen einen deutlichen Anstieg von Verfahren nach AO-SF. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die von Schulen des Gemeinsamen Lernens zurück zur Förderschule wechseln, steigt. Die Unzufriedenheit bei Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften aller Schulformen nimmt weiter zu. Gerade Lehrkräfte, die als Wegbereiter des Gemeinsamen Lernens früh in integrativen Beschulungsmodellen gearbeitet haben, sind massiv enttäuscht von den aktuellen Entwicklungen, da es spürbare Verschlechterungen der Bedingungen vor Ort gibt. Teilweise ersuchen sie um einen Wechsel an Förderschulen.
Ein qualitativ hochwertiger und nachhaltiger Schulentwicklungsprozess benötigt dringend Entscheidungen und Maßnahmen des MSW im Sinne einer Qualitätssicherung der sonderpädagogischen Förderung in Schulen des Gemeinsamen Lernens. Fachverbände, Verbände und Gewerkschaften fordern gemeinsam eine modifizierte Umsetzung des begonnenen Weges der Inklusion an Schulen. Es müssen jetzt dringend allgemeine Standards für die sonderpädagogische Förderung in allgemeinbildenden Schulen aufgestellt und eingehalten werden.
Die Entwicklung und Sicherung von Qualität des Unterrichts und der Förderung ist ein wesentlicher Gelingensfaktor für einen nachhaltigen Transformationsprozess. Die notwendigen Änderungen für diesen Prozess können nach übereinstimmender Analyse wie folgt konturiert werden:
Diagnostik im Sinne einer Lernbegleitdiagnostik ist unverzichtbare Grundlage für einen gelingenden Lernprozess bei Lern- und Verhaltensproblemen. Über Präventionskonzepte kann Schulversagen verhindert und/oder reduziert werden, können alternative Lern- und Bildungsmöglichkeiten eröffnet, sowie Barrieren für Bildung und Teilhabe frühzeitig erkannt und wirksam abgebaut werden. Curriculare Konzepte, die auf Vorgaben aus dem MSW aufbauen, in den verschiedenen Unterrichtsfächern müssen auf die unterschiedlichen zieldifferenten Abschlüsse bezogen werden und zu stimmigen, für die Schülerinnen und Schüler sinnvollen Bildungsgängen zusammen geführt werden. Hier bedarf es eines an die Curricula der allgemeinen Schule anschlussfähigen, und demnach kompetenzorientierten Orientierungsrahmens, der gleichzeitig spezifische Entwicklungsziele berücksichtigt und mit fachlichem Lernen verknüpft. Das MSW sollte hierzu entsprechende Vorgaben erstellen. Standards sonderpädagogischer Förderung können und müssen darin integriert werden. Passende Lerngemeinschaften in heterogenen Gruppen und in Peergruppen ermöglichen den Aufbau einer gelungenen Identität. Die Stärken jedes einzelnen Schülers/jeder einzelnen Schülerin müssen mit passenden Maßnahmen unterstützt werden. Jede Schule, die als Ort des Gemeinsamen Lernens ausgewiesen ist, muss die notwendigen personellen Ressourcen erhalten, um abgestimmtes überprüfbares Konzept lernbegleitender Diagnostik, individueller Leistungsbeurteilung und spezifischer Förderung entwickeln zu können
Die Qualität sonderpädagogischer Förderung in inklusiven Schulen fußt immer auf in sich schlüssigen Konzepten, die auf den jeweiligen institutionellen Rahmen abgestimmt sind. Dabei werden die Expertisen der verschiedenen Lehrämter und anderer Professionen komplementär aufeinander bezogen. Die Aufgabenbereiche der unterschiedlichen Berufsgruppen werden durch inhaltliche und curriculare Vorgaben so beschrieben, dass neben einer generellen Zielformulierung der Zusammenarbeit in der inklusiven Schule auch örtliche und individuelle Variationen möglich sind. Zusätzliche Aufgaben müssen mit hinreichenden Zeitressourcen hinterlegt werden. Auf die Übergänge der unterschiedlichen Schulstufen wird besonderer Wert gelegt, da dieser Punkt entscheidend für gelingende Bildungswege ist. So müssen regionale und kommunale Inklusionskonzepte hierzu verbindliche Kooperationsstrukturen beinhalten, was es auf Seiten des MSW durch entsprechende Standards einzufordern gilt. Dies gilt auch im besonderen Maße hinsichtlich Beratung und Begleitung für die inklusiven Schulen durch regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen, die flächendeckend auf kommunaler bzw. regionaler Ebene als fachlicher Vernetzungsstruktur einzurichten sind. Schulen benötigen eine zentrale Anlaufstelle, um im Bedarfsfall direkte Unterstützung zu erhalten. Es ist sicherzustellen, dass strukturierte Fortbildungen konsequent den Schulentwicklungsprozess sowohl auf Seiten des Kollegiums wie auch von Schulleitung vor Ort längerfristig begleiten. Die Nachhaltigkeit der durch Fortbildungen initiierten Schul-und Unterrichtsentwicklung ist durch an Standards orientierten, von hoher Fachlichkeit gekennzeichnete Prozessbegleitung und -evaluation sicherzustellen. Diese müssen dabei gerade auch curriculare Fragen und die Ausgestaltung von Förderplänen als Grundlage für die Bestimmung individueller Lern- und Entwicklungsziele in der Kooperation der unterschiedlichen Lehrämter zum Inhalt haben. Die universitäre Lehrerbildung wird auf diesen Aspekt des Lehrerberufs verpflichtet.
Die Lehrerfortbildung unterstützt die Expertisen der verschiedenen Lehrämter und stärkt die Lehrkräfte bei der Zusammenarbeit. Die Fachlichkeit der sonderpädagogischen Lehrkräfte, auch gemäß fachrichtungsspezifischer Kompetenzen, wird in der weiteren Schulentwicklung nachhaltig gesichert. In der Lehrerfortbildung werden Fragen der Zusammenarbeit der verschiedenen Lehrämter in einem ständigen Begleitprozess zur Schulentwicklung beachtet. Bei der regelmäßigen Evaluation und Fortschreibung der Schulkonzepte wird besonderer Wert darauf gelegt, dass die Expertisen der verschiedenen Lehrämter und der verschiedenen Berufsgruppen in einer inklusiven Schule im Sinne der Schülerinnen und Schüler erhalten und ausgebaut werden.
II. Der Landtag stellt fest
Fachverbände, Verbände und Gewerkschaften betonen die Bedeutung der Qualitätssicherung. Qualität sonderpädagogischer Förderung im gemeinsamen Lernen muss gestärkt werden. Bei aller Bedeutung der Qualitätsdiskussion darf nicht vergessen werden, dass der Erfolg dieses Entwicklungsprozesses auch davon abhängt, dass die Ressourcenausstattung verbessert wird. Qualitätssicherung und notwendige Ressourcenausstattung sind unverzichtbar für eine gelingende inklusive Schulentwicklung. Um qualitativ gutes gemeinsames Lernen auch weiterhin zu ermöglichen, benötigen die Schulen des gemeinsamen Lernens deutlich mehr Lehrkräfte für sonderpädagogische Förderung, kleine Klassen, ein erweitertes Angebot an Fortbildungen für die Lehrkräfte, eine dem Bedarf angepasste räumliche und materielle Ausstattung und mehr Zeitressourcen für Absprachen und Vorbereitung.
III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- die Qualität sonderpädagogischer Förderung in Schulen gemeinsamen Lernens zu steuern
- die Qualität sonderpädagogischer Förderung in Schulen des gemeinsamen Lernens systematisch zu verbessern
- die notwendigen Ressourcen für qualitativ gutes Gemeinsames Lernen bereitzustellen
Mitschnitt der kompletten Plenardebatte:
Protokoll der Rede von Monika Pieper:
Monika Pieper (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Es geht nahtlos weiter zum Thema „Inklusion“. Ich stelle das gleich an den Anfang meiner Rede: Ja, wir haben die 300 Stellen für Sonderpädagogen zur Kenntnis genommen. Für mich ist zum einen die Frage: Wie sieht der Markt aus? Sind sie da? Gäbe es mehr? Was kann man möglicherweise über die Abschlüsse sagen?
Zum zweiten möchte ich fragen: Rechnet man das um, um zu erfahren, wie viel das eigentlich ist? Sind das 0,75 Kollegen für jede Kommune? Drittens. Ich bin der Meinung, dass diese 300 Stellen auch kein „Nice to have“ und „Obendrauf“ sind. Wenn man sich die Schülerzahlen unter der Situation von Zuwanderung betrachtet, ist es einfach eine logische Folge, dass wir mehr Lehrer und somit natürlich auch prozentual mehr Sonderpädagogen einstellen wollen. Das sind hier also keine „Weihnachts-geschenke“ für die Schulen.
(Eva Voigt-Küppers [SPD]: Das hat auch kein Mensch behauptet!)
Zum Thema des Antrages: Am 25. Mai unterzeichneten die Landesvorsitzenden NRW des Verbandes Bildung und Erziehung, des Verbandes Sonderpädagogik, der Gewerkschaft Er-ziehung und Wissenschaft und des Philologenverbandes die sogenannte Mülheimer Erklärung. Da wir hier häufig über Verbände und darüber sprechen, wie ernst man Verbände nehmen muss oder – wenn es gerade passt – eben nicht: Das sind vier Verbände und Gewerkschaf-ten, die schon eine beträchtliche Anzahl an Mitgliedern in unserem Land vertreten. Das muss man auch zur Kenntnis nehmen.
Die Mülheimer Erklärung greift noch einmal einige Aspekte der Inklusionsdebatte auf, die wir auch hier schon mehrfach geführt haben. Wie emotional und wie wichtig diese Debatte den Leuten hier im Land ist, hat die Diskussion heute Morgen noch einmal gezeigt, in der es um die Grundschulen ging. Immer wieder reden wir über Inklusion. Ich glaube, das ist wirklich die nachhaltigste Herausforderung, die wir im Moment im Bildungssystem haben.
Fakt ist, die Zahl der an allgemeinen Schulen unterrichteten Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf steigt. Das ist aber keine Aussage über gelingende In-klusion. Tatsache ist, die Zahlen der an den Förderschulen unterrichteten Schülerinnen und Schüler sinkt im Gegenzug nicht. Die Zahl der AOSF-Verfahren steigt. Das sollte man eigent-lich nicht erwarten, weil man für die ersten drei Jahre die Einleitung eines AOSF-Verfahrens erschwert hat. Trotzdem steigt die Anzahl der Verfahren und die Zahl der Schüler an Förder-schulen nimmt nicht ab. Im Gegenteil.
Ich habe lange an einer Förderschule gearbeitet. Ich habe an meiner alten Arbeitsstätte nach-gefragt. Der eine Trend ist ganz, ganz deutlich. Die Wechsel von der allgemeinen Schule zur Förderschule nehmen zu. Das lässt sich kommunalstatistisch nachweisen. Eine Reihe von Eltern nimmt tatsächlich einen Umzug in Kauf, um in erreichbarer Nähe für ihr Kind eine För-derschule zu haben, weil sie nicht in der Lage sind, ihr Kind zu fahren, sondern sehen müssen, wie sie mit der öffentlichen Verkehrssituation zurechtkommen. Das ist der Hintergrund, vor dem wir diese Debatte führen müssen.
Ich finde es gut und richtig, dass wir mehr Sonderpädagogen einstellen. Aber ich glaube, das reicht einfach nicht. Wenn wir über Nachsteuerung reden, geht es nicht allein darum, mehr Sonderpädagogen in die Schule zu bringen. Das sagt auch die Mülheimer Erklärung. Es geht auch noch um ganz andere Dinge. Es geht zum einen um die ausreichende räumliche und sachliche Ausstattung an Schulen. Es geht zum anderen um ausreichende Zeitressourcen für die gemeinsame Planung. Das wird immer wieder gerade von Grundschulen gesagt. Es fehlt einfach die Zeit, um sich gemeinsam zu besprechen, zu beraten und um gemeinsam Unter-richt zu planen.
Man muss noch einmal darüber nachdenken, ob man die Unterrichtsverpflichtung in den in-klusiven Klassen senken kann, und ob nicht irgendetwas möglich ist, um eine bessere Arbeit zu ermöglichen.
Die Mülheimer Erklärung fasst noch ein paar andere Punkte an. Es geht um die begleitende Lerndiagnostik und um curriculare Konzepte. Das scheint mir auch ein großes Thema zu sein. Im Moment wissen viele Schulen überhaupt nicht, wie gerade Schüler in der Sekundarstufe I zieldifferent unterrichtet werden. Sie bekommen dann irgendwie Gesamtschulunterricht light. Aber das ist möglicherweise komplett anderer Unterricht mit völlig anderen Lernzielen. Das ist an vielen Schulen noch nicht angekommen und führt zu großen Schwierigkeiten in den Schulen. In dem Zusammenhang steht auch die strukturierte Fortbildung für die Kolleginnen und Kollegen. All dies ist Inhalt der Mülheimer Erklärung.
Ich komme zum Schluss.
Ich freue mich darauf, dass wir noch einmal darüber sprechen und den Verfassern dieser Erklärung möglicherweise noch einmal die Gelegenheit geben, das näher zu erläutern. – Vie-len Dank.
(Beifall von den PIRATEN)
Martin Cuno
Traurig, dass die wichtigste Forderung fehlt:
“Schluss mit der ideologischen Zwangsbeglückung. Die ‘eine Schule für alle’ ist NICHT das einzigmögliche pädagogische Modell zur Verwirklichung der Ziele der UN-BRK. Förderschulen sind sehr wohl dazu geeignet, den menschenrechtlichen Anspruch auf Bildung eines Kindes nach Art. 24 UN-BRK vollgültig zu erfüllen und das Gefühl gesellschaftlicher Zugehörigkeit konkret erlebbar zu machen. Es gibt keine menschenrechtliche Präferenz für ‘inklusive’ Schulen, gegen Förderschulen. Die Entscheidung, welche Schule für ein konkretes Kind passend ist, muss bei den Eltern liegen.”
Ich finde es schlimm, dass vier Lehrerverbände sich zusammentun und diese Forderung NICHT erheben. Warum ich das schlimm finde? Weil ich an der Basis mit vielen LehrerInnen zu tun habe und mir absolut sicher bin, dass dort, an der Basis, die oben genannte Forderung absolut mehrheitsfähig ist.
Es ist ein Elend, dass die Verbände das “Problem” allein auf die Ressourcenabstellung schieben. Schon jetzt werden in NRW, entgegen der Verlautbarung der Ministerin „Die Ressourcen folgen dem Elternwillen“, die „inklusiv“ arbeitenden Schulen gegenüber den Förderschulen vollkommen ungerechtfertigt deutlich bevorzugt (Stichwort „Doppelzählung“). An der Basis wird dagegen wird selbstverständlich gewusst und kommuniziert, das Ressourcen längst nicht alles sind – sondern dass bestimmte Kinder bestimmte verlässliche Umgebungen brauchen.
Den Lehrerverbänden sei empfohlen, sich mit seinen Mitgliedern um das Thema „Remonstration“ zu kümmern. Das ist die beamtenrechtlich verbriefte Möglichkeit und sogar Pflicht, Anordnungen „irrender Obrigkeiten“ zu hinterfragen, wenn die Rechtmäßigkeit dieser Anordnungen in Frage steht. Hat ein Lehrer den Eindruck, dass die Erfüllung des gesetzlichen Bildungsauftrages der Schule, der ihm mit einer bestimmten Klasse übertragen worden ist, nicht möglich ist, so hat er die Pflicht, dies auf dem Dienstweg klären lassen.
Ideologien funktionieren vielleicht nur mit einem abgehobenen Funktionärswesen, welches sich an der Verschleierung der Realität beteiligt.