I. Sachverhalt
Der notwendige Trendbruch bei der Senkung der verkehrsbedingten Emissionen ist bisher nicht eingetreten. Umweltzonen, Feinstaubalarme und Einfahrverbote für Dieselfahrzeuge gefährden die Mobilität der Bevölkerung. Um einen Stillstand zu vermeiden, bedarf es einer zuverlässigen Mobilitätsalternative. Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) übernimmt hier die Schlüsselposition.
Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels wird ein räumlich und zeitlich differenzierteres Verkehrsangebot benötigt. Nur wenn der ÖPNV eine vergleichbare Qualität und Flexibilität wie das Auto liefert, lassen die Menschen das Auto stehen. Hierfür ist jedoch ein massiver Ausbau des vorhandenen ÖPNV-Angebots erforderlich.
Die vorhandenen, finanziellen Mittel für den Nahverkehr reichen allerdings noch nicht einmal aus, um das vorhandene ÖPNV-Angebot aufrecht zu erhalten. Um eine weitere Kürzung des Nahverkehrsangebots zu vermeiden, müssten die Fahrpreise angehoben werden. Ein steigendes Fahrkartenpreisniveau bei gleichzeitig sinkender Angebotsqualität wird nur wenige Autofahrer zum Umsteigen bewegen können.
Während es perspektivisch einen besseren ÖPNV geben muss, ist dessen Finanzierung absolut unsicher. Selbst wenn die Bürgerinnen und Bürger den ÖPNV nutzen wollen, können sie es oftmals nicht, weil kein attraktives Angebot zur Verfügung steht. Aus objektiven und subjektiven Zwängen heraus wird die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin den Pkw vorziehen, um den sozialisierten und gesellschaftlich geforderten Grad an Flexibilität aufrechterhalten zu können.
Mit diesem Grunddilemma hat sich die Enquetekommission FINÖPV intensiv auseinandergesetzt und Handlungsempfehlungen an die Landesregierung ausgesprochen. Diese Empfehlungen werden entsprechend des Plenarbeschlusses bei der weiteren Regierungstätigkeit berücksichtigt. Hierzu gehört die Auseinandersetzung mit weiteren (kommunalen) Finanzierungsinstrumenten für den ÖPNV.
Angesichts der massiven Anforderungen an den öffentlichen Nahverkehr muss die ÖPNV-Finanzierung der Zukunft ein oder mehrere Finanzierungsinstrumente enthalten, welche
- ausreichende und stetige Finanzmittel generieren, um die notwendige Angebotsausweitung des ÖPNV zu ermöglichen.
- motivierend auf den freiwilligen Wechsel hin zum klimaschonenden Nahverkehr wirken.
Ein vielversprechendes Finanzierungsinstrument, das diese Anforderungen erfüllt, ist das “Bürgerticket”; nach dem Vorbild der Semestertickets werden die Fahrgelderlöse durch eine gemeinschaftliche Finanzierung über Beiträge kompensiert. Über dieses Instrument wird bereits in einigen Bundesländern[1], einem Verkehrsverbund[2] und zahlreichen Kommunen[3] diskutiert. Auch die Enquetekommission FINÖPV hat sich damit intensiv auseinandergesetzt. Kontrovers blieb allerdings die Übertragbarkeit in die Praxis auf Grund der beabsichtigten radikalen sowie weitgehenden Umstellung auf einen fahrscheinfreien Betrieb.
Die Befürworter versprechen sich davon eine zuverlässige Finanzierungsbasis des ÖPNV sowie hohe Fahrgastzugewinne. Die Gegner monieren die Zahlungsverpflichtung, obwohl nicht alle den ÖPNV nutzen (möchten) sowie die Notwendigkeit, die ÖPNV-Infrastruktur für den erwarteten Fahrgastzuwachs ausbauen zu müssen. Inwieweit diese Argumente tatsächlich zutreffen, kann nur in einem praxisnahen Pilotprojekt empirisch überprüft werden. Daher muss das “Bürgerticket” nun in einem Modellprojekt erprobt werden.
Letztendlich beleuchten mehrere Gutachten Chancen und Risiken einer solchen radikalen Abkehr von der konventionellen Finanzierungspraxis über Waben, Tarife und Fahrscheine.[4] Aus rechtlicher Sicht ist eine Beitragsfinanzierung des ÖPNV durch die Bürgerinnen und Bürger dann zulässig, wenn eine Mindestbedienung mit ÖPNV sichergestellt ist. Der Landesgesetzgeber ist befugt, die Kommunen zur Erhebung zweckgebundener Beiträge zu ermächtigen.[5] Ob die Kommunen davon Gebrauch machen, obliegt dann der jeweiligen Kommunalpolitik.
Um Klarheit über erwartbare Chancen und Risiken zu gewinnen und um daraus die nötigen Erkenntnisse für die zukünftige politische Entscheidung ziehen zu können, bedarf es weiterer empirischer Erkenntnisse, die durch ein wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt gewonnen werden könnten.
Eine Machbarkeitsstudie für NRW hat einen fahrscheinfreien Nahverkehr für die Stadt Wuppertal (Großstadt), den Kreis Recklinghausen (Ballungsraum) und Bad Salzuflen (Kleinstadt) untersucht.[6] Für den Einstieg in eine Bürgerticketfinanzierung wird gutachterlich empfohlen, zunächst in einer Kleinstadt anzufangen. Parallel dazu verfolgt eine Bürgerinitiative in der Großstadt Wuppertal die Einführung eines beitragsfinanzierten, fahrscheinfreien Nahverkehrs innerhalb des VRR. Beide Ansätze sind vielversprechend und müssen vom Land und der Landesregierung unterstützt werden.
II. Der Landtag stellt fest:
Die gesellschaftlichen, technischen und ökonomischen Herausforderungen an den ÖPNV setzen eine entsprechende Innovationskraft der Nahverkehrsbranche voraus. Zudem sind neue – auch unkonventionelle – Formen der Nahverkehrsfinanzierung notwendig, um eine Unabhängigkeit von Bundes- und Landesmitteln einerseits sowie eine Begrenzung des Tarifniveaus andererseits zu erreichen. Das in vielen NRW-Kommunen und anderen Bundesländern diskutierte Finanzierungsmodell eines kommunalen, zweckgebundenen ÖPNV-Beitrages (Bürgerticket) ist ein innovatives Finanzierungsinstrument, für das in einem Modellprojekt umfassende Erfahrungswerte gesammelt werden müssen.
III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- ein Modellprojekt in einer oder mehreren dafür geeigneten Städten und Regionen (wie Wuppertal, Bad Salzuflen oder Recklinghausen) zu unterstützen und zu ermöglichen.
- dieses Modellprojekt jeweils aufgrund des besonderen Landesinteresses gemäß § 14 ÖPNVG NRW als förderfähig einzustufen, weil die empirischen Untersuchungsdaten eine wichtige Entscheidungsgrundlage für die Zukunft des öffentlichen Nahverkehrs in NRW sein werden.
- die juristischen, betrieblichen und gesellschaftlichen Herausforderungen des Finanzierungsinstrumentes „Bürgerticket“ im Rahmen der Modellprojekte in einer wissenschaftlichen Studie untersuchen zu lassen.
- künftige Modellversuche zu neuen ÖPNV-Finanzierungsinstrumenten im Sinne einer Experimentierklausel innerhalb des Kommunalabgabengesetzes (KAG) zu ermöglichen.[7]
[1] Baden-Württemberg, Berlin, Sachsen, Thüringen.
[2] Mitteldeutscher Verkehrsverbund.
[3] U. a. Tübingen, Leipzig, Halle, Osnabrück, Mannheim, Wuppertal.
[4] Maaß et al. (2015): Fahrscheinlos. Grundlagen und Machbarkeitsstudie Fahrscheinloser ÖPNV in Berlin. Berlin; Seiler, Romy (2015): Akzeptanz von einwohnerbezogenen Nahverkehrsabgaben zur Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs. Bewertungsbedingungen von Grundbesitzabgabe und Bürgerticket am Beispiel Leipzig. Dresden; Jansen, Ulrich et al. (2016): Mobilität in Nordrhein-Westfalen. Situation und Zukunftsperspektiven. Berlin; Waluga, Gregor (2017): Flexibilisierung des öffentlichen Personennahverkehrs durch ein umlagefinanziertes Bürgerticket. München. (Im Erscheinen); etc.
[5] Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.) (2012): Umlagefinanzierung für den fahrscheinlosen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Berlin; Maaß et al. (2015): Fahrscheinlos. Grundlagen und Machbarkeitsstudie Fahrscheinloser ÖPNV in Berlin. Berlin.
[6] tjm-consulting mobilitätsmanagement (2017): Machbarkeitsstudie Bus und Bahn fahrscheinfrei in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf.
[7] Ähnlich der Experimentierklausel zur Erprobung neuer Verkehrsarten im § 2 Abs. 7 PBefG „Zur praktischen Erprobung neuer Verkehrsarten oder Verkehrsmittel kann die Genehmigungsbehörde auf Antrag im Einzelfall Abweichungen von Vorschriften dieses Gesetzes oder von auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften für die Dauer von höchstens vier Jahren genehmigen, soweit öffentliche Verkehrsinteressen nicht entgegenstehen“.